Schottische Ballade
Eneas packte den Jungen. Sie stürzten auf den schlammigen Boden und rangen miteinander.
Rowena sprang hinzu, sah, wie Eneas dem Burschen das Messer entwand und zum tödlichen Stoß ausholte. „Halt ein!“ Sie packte Eneas’ Arm und verhinderte, dass er zustieß.
„Verdammt, lass los“, schrie Eneas.
„Er ist doch noch ein Knabe. Lass uns herausfinden, was er tun woll...“
„Er versuchte, mich zu töten.“ Alexander stieß Rowena zur Seite, packte den Jungen bei der Kehle und hob ihn empor. „Wer hat dich geschickt? Wer bezahlt dich, um mich zu töten?“
„Niemand“, rief der Junge trotzig. Er war jung, jünger als Rowena dachte. Bestimmt nicht mehr als zehn oder elf Jahre. „Ihr habt meinen Bruder getötet. Kaltblütig gemeuchelt.“
„Wer soll das sein?“
„Will Ross. Ich bin sein Bruder Colin.“
„Aha.“ Alexanders Mund verzog sich geringschätzig. „Die Rosses haben also noch einen Verräter großgezogen, der Wills Weg fortsetzt.“
„Will war kein Verräter. Sein einziges Verbrechen war, dass er nicht Teil Eures verwünschten Heeres sein wollte. Dafür habt Ihr ihm Euer Wolfsrudel hinterhergeschickt, während er Zuflucht in Blair Abbey suchte.“
Ein böses Raunen ging durch die Menge.
Alexander beachtete es nicht, sein finsterer Blick war auf den Knaben gerichtet, der kraftlos in seinem Griff hing. „Das ist eine Lüge. Doch wahrscheinlich die Letzte, die du erzählt hast. Georas, bring mir den Strick. Wir werden ihn aufhängen ...“
„Mylord, wartet bitte.“ Rowena drängte sich durch die Menge. „Bitte. Ihr könnt ihn nicht hängen. Er ist doch noch ein Knabe ... ein Kind. Er kann noch nicht völlig verstehen, was er tat. Wenn Ihr ...“
„Wie könnt Ihr es wagen, mich auf so unverschämte Art anzusprechen?“ brummte Alexander. „Wer zur Hölle seid Ihr?“
„R...Rowena Gunn. Ich ..."
„Gunn!“ Es war, als würde sie Öl ins Feuer gießen. Seine Augen blitzten vor Wut. „Noch mehr Verräter. Was tut Ihr hier?“ „Ich ... wir ... “, sie deutete auf Eneas, der nun neben ihr stand, „... kamen, um den Treueid für meinen Sohn zu schwören.“ Alexanders Wut milderte sich, als er Eneas anblickte. „Ihr habt mir das Leben gerettet, und dafür danke ich Euch.“ Er kniff die Augen zusammen. „Wer ist dieses lästige Weib?“
„Eine Plage“, sagte Eneas rasch.
Rowena rang nach Luft. Das durfte nicht geschehen. Wenn ihr Böses zustieße, wer würde Paddy erziehen? „Ich bin die Mutter von Padruig Gunns Erben.“
„Sprich zu mir nicht von diesem Verräter“, sagte Alexander. „Georas, häng den Burschen auf, und sperr dieses Weib in den Kerker, bis ich entschieden habe, was mit ihr geschehen soll.“ „Auf ein Wort, wenn es Euch beliebt, Alexander?“ rief eine tiefe, wohlbekannte Stimme.
Rowena fühlte eine seltsame Erleichterung, als sie Lion erblickte, der seinen Hengst durch die Menge drängte.
„Da seid Ihr ja“, sagte der Earl. „Ihr habt Euch eine verdammt schlechte Zeit ausgesucht, um auf die Jagd zu gehen, Lion. Ich wurde beinahe getötet. Von diesem da.“ Er zeigte auf den Knaben in Georas’ fester Umklammerung.
Lions gütiger Blick huschte über den Knaben, dann wandte Lion sich an sie. „Und was hat Rowena getan?“
„Was kümmert es Euch?“
„Ich habe letzte Nacht erwähnt, dass ich sie seit langer Zeit kenne, und ...“, Lion legte seine Unterarme auf das Sattelhorn, „... wir sind verlobt.“
„Verlobt?“ rief der Earl. „Davon weiß ich nichts. Wann ist das geschehen?“
„Wir besprachen es an diesem Morgen, denn ich habe immer gewusst, dass sie die Lady meines Herzens ist.“ Er sah sie geradewegs an, als er sprach. Sein Blick war spöttisch, schien sie herauszufordern, seiner Behauptung zu widersprechen, und dafür die Folgen zu tragen.
6. KAPITEL
Wenn Blicke töten könnten, wäre ich jetzt tot, dachte Lion, sich der vielen finsteren Blicke bewusst, die man in seine Richtung warf. Da waren Selenas tückische Missgunst, Georas’ offene Abscheu und Eneas Gunns unheilvoller Zorn.
Das galt auch für Rowena, die vor Wut zu bersten schien. Nur eine Haaresbreite war sie davon entfernt, ihn trotz der Gefahr öffentlich bloßzustellen. Er konnte sich indes nicht darum kümmern, was man über ihn dachte. Seine Mission und einige Menschenleben - auch das des jungen Colin Ross - hingen an einem seidenen Faden. Und es war ein sehr dünner Faden.
Lion richtete seine Bemühungen auf den Mann, der diesen Faden durchtrennen
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