Schrecken der Nacht
Vielleicht in wenigen Minuten, vielleicht auch erst in einer halben Stunde, wer konnte das schon wissen.
Eros’ Blick blieb auf das Bett gerichtet. Er wollte sehen, ob Corinne schon erwacht war oder sie noch schlief. Es war die Zeit des Erwachens. Als Blutsaugerin liebte sie die Nacht. Dann war die Sucht nach dem Lebenssaft der Menschen groß, doch sie ließ sich Zeit, und es schien, als wäre sie eingeschlafen.
Er ging auf das Bett zu. Schleichend. Den ersten Schritt, den zweiten. Damit hatte er schon den Tisch passiert und freie Bahn. Den Pfahl hielt er jetzt hinter seinem Rücken verborgen. Corinne sollte erst im letzten Augenblick erkennen, welches Schicksal er ihr zugedacht hatte.
Es war schon ungewöhnlich, daß sie sich nicht bewegte. Normalerweise hätte sie längst reagieren müssen, und er wollte bereits die Hand ausstrecken und nach der Decke greifen.
Da passierte es.
Sie war urplötzlich wach. Oder schon immer wach gewesen. Er hörte ihren Schrei, und zugleich schlug sie mit einer schon wütenden und auch wuchtigen Bewegung die Decke zurück, die dabei so hoch flog, daß sie das Gesicht des Eindringlings streifte. Unwillkürlich zuckte er zurück und drehte sich zur Seite.
Sie kam ebenfalls hoch.
Ihr Mund stand weit offen. Er sah das Gesicht als bleichen Fleck. Noch dachte er wie ein Mensch und erinnerte sich auch daran, wie hübsch die blonde Corinne ausgesehen hatte. Davon war jetzt nichts mehr zu merken. Die Verwandlung hatte sie zu einem regelrechten Monstrum werden lassen. Wirres verschwitztes Haar. Augen, die fast aus den Höhlen traten. Ein weit aufgerissener Mund, in dem besonders die beiden Zähne auffielen, die aus dem Oberkiefer hervorstachen. Sie sahen aus wie spitze, weiße Steine, und sie waren bereit, sich in die dünne Haut am Hals eines Menschen zu schlagen. Für Corinne war Eros nicht mehr der Mann, mit dem sie einmal ins Bett gegangen war. Sie sah in ihm einzig und allein das Opfer und damit die Blutbeute.
Plötzlich stand sie auf dem Bett, sie federte noch einmal nach und stieß sich ab.
Einem normalen Menschen wäre sie leicht an die Kehle gefahren, nicht jedoch Eros.
Der war auf den Angriff gefaßt gewesen und reagierte sofort und mit einer blitzschnellen Gegenwehr. Er schlug mit der freien Hand zu. Die Faust erwischte den Kopf der Blutsaugerin, und der Treffer schleuderte sie so weit zurück, daß sie gegen die Wand der Kabine krachte, an der das Bett mit seiner Breitseite abschloß.
Der Treffer ließ sie zugleich zusammensacken, aber sie war nicht erledigt. Fauchende Schreie, wie sie nur eine Blutsaugerin ausstoßen konnte, drangen Eros entgegen. Der Haß und die Gier trieben sie voran und dabei in einen regelrechten Wahnsinn hinein.
Wieder stieß sie sich ab.
Ihr Körper lag in der Luft. Die Kehle des Opfers und der Hals lockten sie.
Eros riß den Pfahl hoch. Es wäre jetzt einfach gewesen, sie zu töten, ihr das Holz tief in den Körper zu rammen, aber er konnte es auf einmal nicht tun.
Seine Hand blieb in der Luft stehen, als wäre sie von einer unsichtbaren Kralle gehalten worden. Es war genau die Sekunde, die bei ihm die Verwandlung auslöste. Er hatte bisher auf der Schwelle vom Menschen zum Vampir gestanden und diese Grenze nun überschritten. Er merkte, wie etwas in seinem Körper sich veränderte, und für ihn dehnte sich die Zeit unglaublich in die Länge.
Etwas veränderte sich in seinem Mund. Der Druck in der oberen Zahnreihe nahm zu. Aus Eros sollte der Schrecken der Nacht werden, und wenn das eintrat, dann würde er ebenfalls auf Blutsuche gehen müssen. Dann schlug das Erbteil des Vaters voll durch.
Corinne sprang ihn an. Und sie war neben die Spitze des Pfahls gesprungen, so daß das alte Eichenholz sie nicht einmal berührt hatte. Dafür spürte er ihr Gewicht, das ihn zurücktrieb. Diesmal taumelte Eros durch die Kabine. Zwischen den beiden kleinen Fenstern prallte er mit dem Rücken gegen die Wand. Schmerzen verspürte er keine, denn er befand sich noch immer in der schmalen Zwischenwelt und tanzte auf dem Grat zwischen Mensch und Vampir.
Corinne hatte ihren Mund weit aufgerissen. Aus den Winkeln sickerte eine gelbliche Flüssigkeit nach außen, und Eros starrte genau auf die beiden Bluthauer, die gegen seine linke Halsseite zielten.
Ihre starken Hände drückten seinen Körper gegen die Kabinenwand, und er kämpfte nach wie vor hart mit sich selbst. Er wollte nicht verlieren, er wollte sich diesmal dem Schicksal entgegenstemmen, aber die
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