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Schreckensbleich

Schreckensbleich

Titel: Schreckensbleich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urban Waite
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Handabdrücken. »Ja, Sir, ich kenne Phil Hunt«, sagte er. »Er kam gerade aus Monroe raus, als ich da eingefahren bin. Wir haben uns im Vorübergehen getroffen.« Grady nahm eins der Messer zur Hand und begutachtete die Spitze. »Ja, ich glaube nicht, dass das ein Problem wäre. Ich glaube, das käme mir sehr gelegen. Ich kann die Ladung am Flughafen abholen und sie dann ausliefern lassen, bevor ich Hunt besuchen gehe. Das sollte kein Problem sein. Ja, Sir, mein üblicher Preis, plus Spesen. Ja, ich verstehe.« Das ganze Gespräch hatte nicht einmal eine Minute gedauert.
    Wo immer Grady hinging, trug er seinen Messerkoffer bei sich. Im Laufe der Jahre hatte er sein Sortiment erweitert, wenn sich neue Situationen ergeben hatten. Wenn der Job es zuließ, zog er es vor, Messer zu verwenden, genauso, wie er es vorzog, dem Tier in die Augen zu sehen, das er schlachtete. Diese Blutlust erschien ihm logisch. Er empfand eine gewisse intime Vertrautheit damit. Ein Wunder, von dem er geglaubt hatte, es wäre mit seiner Kindheit verschwunden, wäre während seiner Zeit in Monroe verschwunden, bei den Knastpsychiatern und den Medikamenten. Doch in den letzten Jahren hatte er dieses Wunder allmählich von neuem gespürt, hatte angefangen, es zu erforschen und zu genießen.
    Er glaubte aufrichtig, dass der Satz »Die Augen sind die Fenster der Seele« zutraf, und gab sich dieser Einsicht vollständig hin. Er wollte diese Augen sehen, wollte ganz dicht herantreten und das Leben jenes anderen fühlen. Und er hoffte, dass es eines Tages dazu kommen würde, von Angesicht zu Angesicht, mit offenen Augen. Er hatte den Kopf des Schweins mit der Metallsäge abgetrennt; er lag auf dem Tisch und glotzte ihn an, die Augen kalt und dunkel wie offene Geleegläser.
    Als er fertig war, wusch er die Messer nacheinander ab. Wer ihn arbeiten sah, hätte vielleicht den Ausdruck »gewissenhaft« benutzt, andere hätten vielleicht gar keine Gelegenheit gehabt, überhaupt etwas zu sagen. Für die Haut hatte er ein Tranchiermesser verwendet, ein kleines Ausbeinmesser, neun Zentimeter lang, und ein Küchenmesser, das ein wenig länger war. Stets war er sich bewusst, dass Schweine nicht so zart waren wie der menschliche Körper, aber sie kamen ihm nahe, und man konnte gut an ihnen üben.
    Behutsam öffnete er den Koffer und fand die druckknopfbewehrte Haltelasche für jedes der Messer. Danach entfernte er die Sehnenreste von seiner Metallsäge, dann machte er sich daran, den Tisch aufs Neue bereitzumachen.
    ***
    Hunt schritt im Wohnzimmer auf und ab und schaute aus dem großen Fenster auf seinen Rasen hinaus, wo er weiter draußen die hohen Kiefern sehen konnte. Er trug noch immer seine Stiefel, um die Knöchel herum doppelt geschnürt. Sie hätten ihn beinahe ertränkt. Allerdings, dachte er bei sich, hatte der Fluss das auch getan.
    Er hatte nie gut verdient. Hoffnung bestand immer, doch es war nie etwas daraus geworden, nicht in den letzten zwanzig Jahren. Das große Geld war immer nur einen Job weit entfernt, immer knapp außer Reichweite. Und obwohl er oft daran dachte, war Geld nicht seine größte Sorge. Sein Leben war von einem einzigen bemerkenswerten Ereignis gezeichnet worden. Nicht in dem Sinne bemerkenswert, dass er stolz darauf sein konnte, sondern vielmehr auf eine Art und Weise, dass er es nur halb glauben konnte, selbst nach all der Zeit, die vergangen war – dass er einmal einen Mann für die lächerliche Summe von vierzig Dollar erschossen hatte, in einem Laden, in dem es Fischköder zu kaufen gab. Ihn mit einer Ladung Hirschschrot getötet hatte.
    Er hatte dafür gesessen, zehn Jahre. Jedes Fitzelchen davon hätte er gern zurückgenommen. Seit er aus dem Gefängnis gekommen war, vor zwanzig Jahren, bis zum heutigen Tag; als er im Wohnzimmer auf und ab schritt und darüber nachdachte, wie ihn das Leben hierhergeführt hatte, zu diesem Augenblick. Sein Verstand wanderte an unzählige verschiedene Orte und kam wieder und wieder zu ein und demselben Schluss – es war seine Schuld, dass nichts anderes aus seinem Leben geworden war.
    Er ging im Kreis, den Blick auf die Kiesauffahrt gerichtet und darüber hinaus, an den Bäumen vorbei zur schwarzen Asphaltstraße. Seine Frau Nora kam ins Wohnzimmer, um ihn zu betrachten. Sie war ein dünnes Geschöpf mit zu stark geschminkten Augen und zuckerwatteflaumigem Haar. Hunt wusste, dass das Leben mit Pferden sie verändert hatte; einssiebzig mit schlanken, muskulösen Beinen und kräftigen,

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