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Schreckensbleich

Schreckensbleich

Titel: Schreckensbleich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urban Waite
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betrachtet hatte, steckte er den Zettel in die Tasche.
    Der Gedanke hatte sich eigentlich noch gar nicht zu Ende gedacht. Jetzt aber tat er es. Er hatte das Mädchen als Dollarsumme betrachtet. Deswegen hatte er ein schlechtes Gewissen. Die beiden Jungen auf dem Foto – Thus Söhne – blickten vom Tisch zu ihm auf. Sie lächelten. Wie viel war sie wert? Neunzigtausend? Das war nicht genug, um ein neues Leben anzufangen, doch es könnte genug sein, um ihn dorthin zu bringen. Einen Augenblick lang dachte er daran, nach Vietnam zu gehen, er dachte an Thu, und er dachte an Nora. Bestimmt könnte das Geld ihnen dort eine Menge nützen. Am Anfang würde es kein besonders tolles Leben sein, aber sie würden es aufbauen. Er kam sich albern vor. Unwillkürlich lachte er in sich hinein, ein verzweifeltes Lachen, halb abgewürgt, und am Schluss konnte er etwas Glitschiges in den Augen fühlen und blinzelte es fort.
    Er konnte Roy und Nancy im Schlafzimmer miteinander reden hören. Roy kam heraus, und Hunt steckte den Pass und das Make-up wieder in die Tasche. Roy stand da und musterte Hunt. Hunt hielt ihm das Foto hin. Roy nickte, nahm das Bild und gab es ihm dann zurück. Sie sagten nichts zueinander. Hunt steckte das Bild in die Brieftasche und verstaute alles wieder in der Tasche. Er sah zu, wie Roy eine Schüssel mit Wasser und Eis füllte. Als sein Freund fertig war, folgte er ihm, die Hand auf sein schlimmes Bein gedrückt, und hinkte durch den Flur.
    Das Mädchen atmete immer langsamer. Sie war fast ohne Bewusstsein, halb tot, die Augen nahezu geschlossen. Hunt und Roy standen in der Tür und schauten ins Zimmer. »Es geht ihr immer schlechter«, sagte Nancy. »Es wird Zeit, dass wir jemanden holen.«
    Roy machte sich auf den Weg in die Küche, doch Hunt hob den Arm und versperrte ihm den Weg. Roy war größer, doch er hatte nicht damit gerechnet und blieb stehen.
    »Jetzt komm schon, Mann«, sagte Roy. »So kaltschnäuzig kannst du doch nicht sein. Sie wird draufgehen. Ihre Pupillen sehen aus wie Nadelstiche.«
    Hunt sah zu Thu hinüber. Sie hatte ihm das Leben gerettet, sie alle hatten ihm das Leben gerettet, doch er konnte das nicht zulassen. Es gab dabei noch andere Dinge zu bedenken. Er wusste genau, was es bedeutete, sie herzugeben: keine Drogen, keine Zukunft, nur ein One-Way-Ticket zurück in den Knast. Das ging nicht. Es gab eine Menge Dinge, die er in seinem Leben nicht getan hatte. Es gab vieles, was er verpasst hatte – Familie, Vaterschaft, Sicherheit –, und zwar wegen einer Vergangenheit, die er jede Stunde jedes einzelnen Tages rückgängig machen wollte und von der er wusste, dass er das nicht konnte.
    Der Atem des Mädchens ging langsamer, und sie hatte jetzt schon seit einer ganzen Weile die Augen nicht mehr aufgemacht. Das Zimmer stank nach Schweiß. Hunt hielt den Arm ausgestreckt, die Finger an der Flurwand und den Ellbogen so steif, wie er nur konnte.
    Roy legte die Hand in Hunts Armbeuge und knickte den Arm ein. »Du hast Glück, dass ich dir nicht das Bein unterm Hintern weggetreten habe.« Er ging an ihm vorbei, und Hunt folgte ihm.
    »Wenn du jetzt anrufst, dann weiß jeder, der hinter uns her ist, genau, wo er suchen muss.«
    Roy hielt den Hörer in der Hand. Er dachte nach. Hunt wusste, dass er an das Boot dachte – selbst im Regen war das ein schlimmer Anblick gewesen, das wusste er. Das Deck voller Blut, der Fiberglasstaub wie Leim über allem. Einschusslöcher und Glasscherben; das war eine ernste Sache, über die man nachdenken musste. Hunt hatte darüber nachgedacht, und er wusste, dass Roy jetzt dasselbe tat.
    »Ich stecke schon so tiefer in all dem drin, als mir lieb ist«, meinte Roy. »Eine Überdosis in meinem Schlafzimmer, das läuft nicht.« Er tippte die Nummer ein und wartete.
    »Ich bringe sie hin«, sagte Hunt.
    »Was?« Roy legte die Hand über die Sprechmuschel.
    »Ich bringe sie hin«, wiederholte Hunt. »Gib mir deinen Autoschlüssel, und ich bringe sie hin.« Er ging auf Roy zu, der mit dem Hörer in der Hand dastand.
    Roy antwortete nicht.
    »Komm schon«, drängte Hunt. »Gib mir deinen Schlüssel. Du hast es doch selbst gesagt, du willst nicht noch tiefer da reingezogen werden. Wir wissen doch beide, wie das hier ausgeht, wenn die erst rausfinden, dass du in Monroe warst.« Die beiden Männer standen nah beieinander. »Roy, sag mir einfach, wo ich hinfahren soll. Ich kann sie schneller ins Krankenhaus schaffen, als wenn du einen Krankenwagen rufst.«
    Nancy

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