Schrei vor Glück: Zalando oder shoppen gehen war gestern (German Edition)
Jahren der Stagnation, Konzeptlosigkeit und schrumpfenden Umsätze drohte Europas größte Versand- und Warenhauskonzern Arcandor im September 2008 wieder einmal das Geld auszugehen. Nach der Pleite des US-Bankhauses Lehman Brothers war einer der drei Kreditgeber abgesprungen, die Royal Bank of Scotland. Konzernchef Thomas Middelhoff schusterte in größter Not mit dem Bankhaus Sal. Oppenheim in Köln eine Finanzierung zusammen, die nur bis zum Juni 2009 terminiert war. Der Handelskonzern, dessen größte Warengruppe traditionsgemäß Textilien und Schuhe darstellten und der im Geschäftsjahr 2007/2008 noch einen Umsatz von fast 20 Milliarden Euro auswies, war insolvent. Die Folge war die Zerschlagung, und viel blieb nicht übrig. Der Universalversender Quelle verschwand vollständig vom Markt, selbst die Wiederbelebung als Marktplatz quelle.de unter dem Dach des bisherigen Hauptkonkurrenten Otto scheiterte. Auch Neckermann stellte später – ebenfalls insolvent – das Geschäft ein. Die früheren Konzerntöchter Hertie und Wehmeyer machten ebenfalls zu, SinnLeffers konnte sich nach der Insolvenz immerhin in verkleinerter Form über Wasser halten. Zusammen hatten diese Händler Milliarden Umsätze mit Mode erzielt.
Und mitten in diese Marktbereinigung platzten nun die jungen Onliner. Die Branche verspürte nach dem Platzen der Dotcom-Blase ihren zweiten Wind. Die Zukunft hatte offenbar begonnen. Just als Karstadt im Oktober 2010 mit Müh und Not durch seinen Neueigentümer Nicolas Berggruen vor der Insolvenz gerettet worden war, verhandelte Zalando mit Tengelmann-Chef Haub über dessen Millionen-Investition. Die kam dann Ende 2010 genau zum richtigen Zeitpunkt, um auf dem Markt der verunsicherten und unter niedrigen Gewinnmargen ächzenden Schuh- und Modehändler mit voller Finanzpower und jugendlichem Schwung anzugreifen – und zum anderen die durch das Verschwinden der zahlreichen ehemaligen Arcandor-Marken frei gewordenen Fashion-Umsätze abzugreifen. In der Insolvenz hatte Karstadt bereits viele seiner Onlinespezialisten und deren Know-how verloren. Mehrere von ihnen wechselten die wenigen Kilometer von Essen nach Mülheim – zu Haubs Onlinehändler plus.de .
Arcandor/Karstadt steht hier durchaus stellvertretend für jene Teile des klassischen Einzelhandels, die den virtuellen Innovationen und Neuerungen skeptisch bis feindselig gegenüberstanden oder die zu wenig Geld dafür in die Hand nehmen wollten. Und Zalando meint dabei nicht nur Zalando, sondern auch alle anderen jungen Wilden, die den Dinosauriern der Branche die Beute abjagen wollten.
Seit diesem Zeitpunkt nämlich nimmt der neue Handel dem alten Handel konsequent so dramatisch Marktanteile ab, dass es den Konventionalisten angst und bange wird. Stationäre Händler stellen in ihren Läden schon iPads auf, über die die Kundschaft bestellen kann, was gerade nicht im Regal ist. Damit zumindest die junge Kundschaft überhaupt noch in die Städte kommt und nicht nur noch dem Sofa-Shopping oder dem Mobile Commerce per Smartphone frönt. So sehr hat der Onlinehandel, der ja nichts anderes ist als der alte Katalogversand mit Elektroantrieb, unsere Einkaufsgewohnheiten in nicht einmal zwei Jahrzehnten schon verändert.
Die Folgen sind längst in den Fußgängerzonen, vor allem in denen der kleineren und mittleren Städte, zu besichtigen. Immer mehr kleine Händler geben auf, Ladenlokale stehen leer, Bürgermeister machen sich Sorgen um die Zukunft ihrer Innenstädte. Nicht zu Unrecht, denn in vielen Fußgängerzonen und Rathäusern herrscht Ratlosigkeit, wie man diesem Phänomen begegnen kann. Oder ob es dafür nicht bereits zu spät ist.
Dabei steht die die Entwicklung des couch commerce immer noch am Anfang. Für die Recherchen zu diesem Buch habe ich zahlreiche Top-Manager des Einzelhandels und andere Branchenkenner gefragt, in welche Entwicklungsphase sie den Onlinehandel in Deutschland einordnen würden, wenn man ein Menschenleben zum Maßstab nähme. Zwar gab es die unterschiedlichsten Antworten. Aber allen war gemeinsam, dass der Onlinehandel noch längst nicht erwachsen, sondern noch in der Wachstumsphase oder allenfalls in der Pubertät sei. Das heißt, um im Bild zu bleiben: Der Onlinehandel ist noch gar nicht erwachsen, er hat seine besten Jahre erst noch vor sich.
Schockstarre und Ignoranz
Vor allem ältere Konsumenten – und immer auch noch einige Händler – fragen sich verständnislos, wofür die Menschheit diesen Onlinehandel
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