Schritte im Schatten (German Edition)
nach Carradale mit. Naomi hatte mich darum gebeten. »Ich habe gehört, du hast einen
faszinierenden
Amerikaner.« Die Busreise nach Schottland gehört zu meinen unerfreulichsten Erinnerungen. Clancy war damals krank, ein wenig verrückt. Mir war schlecht von dem Bus, aber wie er sich gefühlt haben muss … Er war bleich, schweißgebadet, saß mit geschlossenen Augen und zusammengebissenen Zähnen da. Ich kenne eine ganze Menge Leute, die mit periodischen Anfällen von Labilität zu kämpfen haben, und sie gehören zu den tapfersten Seelen auf der Welt.
Ich hatte Naomi gesagt, dass sie Clancy innerhalb des Hauses unterbringen solle, weil er sich an Orten, an denen er sich isoliert vorkam, nicht wohlfühle, aber sie steckte ihn in ein weit entferntes Zimmer in einem Anbau. Interessant ist auch, dass wir so weit voneinander entfernt untergebracht wurden. Der Clan und er, es war Hass auf den ersten Blick. Dieser Einzelgänger, dieser Außenseiter, dieser exakte Beobachter hatte etwas an sich, das sie nicht ausstehen konnten. Während der drei Tage unseres Besuchs saß er stumm da und beobachtete sie von den Randbereichen der Zimmer aus, während sie ihn grob oder herablassend behandelten. Oh, wie ich Gruppen, Clans, Familien, das menschliche »Wir« hasse. Wie ich sie als Bedrohung empfinde, sie fürchte – ich versuche immer, mich von ihnen fernzuhalten. Im Vergleich zu ihnen sind Rudel von Wölfen oder wilden Hunden harmlose Feinde. Clancy und ich fuhren in einem anderen Bus nach London zurück, während kalter Regen an den Fenstern herabströmte, und Clancy begab sich sofort nach oben an seine Schreibmaschine, wo er den ganzen Tag blieb und dann mit ungefähr fünfzig Seiten wieder herunterkam, die er mir gab. Er setzte sich an den Küchentisch und beobachtete mein Gesicht, während ich las. Ich habe noch nie in meinem Leben etwas gelesen, das so intelligent, so scharfsinnig, so exakt beobachtet war – und so schrecklich. Denn sein Hass hatte diesen Text geschrieben, und er war reines Gift. Man vergleiche es mit dem, was er über das Bergarbeiterdorf geschrieben hatte: Das war aus Liebe und Achtung entstanden, aber diese Seiten aus Abscheu. Für Clancy war schon das Wort »Mittelschicht« aufreizend, aber die Mitchisons hatten etwas an sich … es war ihre Sicherheit, ihr Selbstbewusstsein, ihre Überheblichkeit in der Annahme der eigenen Unverletzlichkeit – so jedenfalls musste dieser Außenseiter sie sehen –, die Art, auf die der Clan so fest mit der Gesellschaft verwoben war, die dieser Außenseiter nicht ertragen konnte. Aber ich habe daraus eine Lektion gelernt, nämlich die, dass auf der Welt nichts einfacher ist als Bosheit. Nein, an der Brillanz seiner Beobachtungen war nichts Einfaches, aber man kann sich im Bruchteil eines Gedankens in den Modus des Hassens hineinversetzen. Ich weiß nicht, weshalb wir Bosheit so sehr bewundern. Sie wird oft »Witz« genannt. Eine Zeit, in der sie florierte, waren die zwanziger Jahre – vermutlich eine »Emanation« von jenem berühmten Tisch im Algonquin –, und der Einfluss sickert durch die Jahrzehnte, bis irgendeine alte Lady plötzlich in gackerndes Gelächter ausbricht und sagt: »Sie hat ein Gesicht wie eine Kartoffel …« und dann zuversichtlich den Blick in die Runde gehen lässt, um sich zu vergewissern, dass dieser Pfeil die Bewunderung erhält, die er verdient. »Er sieht aus wie ein Frosch mit Verdauungsstörungen« – toller Witz, wie wir in der Schule zu sagen pflegten.
Es ist 1957 , 1958 … Ich stecke tief im
Goldenen Notizbuch
und stöhne innerlich, denn jedes Mal, wenn das Telefon läutet, höre ich etwas wie: »Hast du das mit dem armen Bob gehört? Es macht ihm schwer zu schaffen.« – »Mary hat die Partei verlassen. Sie will jetzt Sozialarbeiterin werden.«
Sind diese alten politischen Leidenschaften heute noch von Interesse? Ich glaube, es ist wichtig, dass wir aus ihnen lernen. Wir stehen immer noch vor der (jetzt) unglaublichen und unverzeihlichen Tatsache, dass einige der sozial am stärksten engagierten, auf eine bessere Zukunft hoffenden, hingebungsvollsten Geister sich an den Verbrechen in der kommunistischen Welt mitschuldig machten, indem sie sich weigerten, sie zur Kenntnis zu nehmen, und dann, indem sie sich weigerten, sie öffentlich einzugestehen. Nicht hundert oder tausend, sondern viele Tausende oder Millionen überall in der Welt. Und diese Einstellung – dieses Widerstreben, die Sowjetunion, diese
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