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Schritte im Schatten (German Edition)

Schritte im Schatten (German Edition)

Titel: Schritte im Schatten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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große Alma Mater, zu kritisieren – dauert an. Sie zeigt sich in der Art, mit der Hitler die Rolle des Hauptverbrechers unserer Zeit zugewiesen wird, während Stalin doch tausendmal schlimmer war – und Hitler hat Stalin bewundert; er sah sich völlig zu Recht im Vergleich zu seinem großen Vorbild als bloßer »Lehrling« in Sachen Verbrechen –, zeigt sich in der milden Behandlung, die das Ganze in der Vorstellung der Linken erfährt.
    Interessant ist natürlich, weshalb das so ist. Schließlich ist damit zu rechnen, dass diese Situation oder eine ähnliche wieder auftaucht, in einem anderen Kontext, einem anderen Abschnitt der Geschichte. Das ist immer der Fall. Und werden wir (die Menschheit) sie das nächste Mal erkennen und besser darauf reagieren?
    Wie alle Menschen in meiner Situation, in der »jedermann« Kommunist war, habe ich gegrübelt, nachgedacht, mir Fragen gestellt, der verführerischen Erinnerung gestattet, die Dinge zu verschönern. Trotzdem stehe ich seit Jahren, seit Jahrzehnten vor einer unbeantworteten Frage. Offensichtlich war es eine Art Massenwahn, eine Massenpsychose. Später, viel später – in Wirklichkeit sogar erst vor Kurzem – kam mir der Gedanke, was der Grund für all das gewesen sein könnte.
Gewesen sein könnte
 – mehr behaupte ich nicht.
    Wieder kehren wir zum Ersten Weltkrieg zurück, jener Zeit, von der der Horror unserer Zeit seinen Ausgang nahm.
    Es ist auffällig zu beobachten, wie Leute mit einem berechtigten Interesse an der nationalen Reputation weich werden und diesen schrecklichen Krieg rechtfertigen. »Aber wir haben in den Schützengräben nur …« so und so viele Hunderttausende von Männern »verloren«.
Wir
 – Großbritannien. Aber das war ein europäischer Krieg, und es waren nicht nur die britischen Soldaten, die mit Hass und Verachtung für ihre Regierung nach Hause kamen oder, wem diese Worte zu stark sind, zumindest mit Beunruhigung oder Kummer, auf jeden Fall aber mit einem Verlust an Vertrauen angesichts der Inkompetenz der Männer, die sie regierten. Meine Eltern waren nicht die einzigen Opfer des Krieges im Distrikt Banket in Südrhodesien. Die Frau, die wir ihrer traurigen Würde wegen Lady Murray nannten, hatte vier Söhne und einen Mann in den Schützengräben verloren. Captain Livingstone hatte wie mein Vater nur noch ein Bein. McAuley von der Ayreshire-Mine war schwer verwundet worden. Und da waren noch andere. Alle liebten das Britische Empire und ihr Land, und alle waren traurig und wütend über die Art, auf die Haig und die britische Regierung den Krieg geführt hatten. Ein Deutscher, der in einer kleinen Mine arbeitete und mit dem mein Vater oft Erinnerungen austauschte, hegte dieselben Gefühle für die deutschen Schützengräben und die deutsche Regierung. Das Gemetzel in den Schützengräben hat in Europa etwas Entscheidendes zerstört – den Respekt vor Regierungen. Und hieraus erwuchsen Kommunismus, Faschismus, Nationalsozialismus und später Terrorismus, Anarchie und diese Einstellung, die heutzutage überall herrscht, dieses tödliche
Well, what can you expect?
Nihilismus, Zynismus, Unglaube – was die eigene Seite angeht –, und gleichzeitig werden der ganze Idealismus, Liebe, Hoffnung, Träume von einer guten Welt anderswo investiert, in Lenin, Stalin, Hitler, Mussolini und später diese anderen Verbrecher, Mao, Pol Pot … die Liste scheint kein Ende zu nehmen.
    Aber da ist noch eine tiefere Emotion, die ich für den eigentlichen Kern der Sache halte. Die Kinder der Soldaten des Ersten Weltkriegs wuchsen nicht nur mit bitterer Desillusionierung und dem Verlust des Respekts für ihre Regierungen auf, sondern auch mit dem Gefühl, an einem Begreifen teilzuhaben, das einer ignoranten, gedankenlosen Mehrheit versagt blieb. Es ist das Gefühl, das in einem Lied aus dem Ersten Weltkrieg zum Ausdruck kommt, das mein Vater zeitlebens nicht vergessen hat.
    And when they ask us,
    We’re going to tell them,
    And they’re certainly going to ask us …
    Tell them
 – ihnen, den Zivilisten, die Wahrheit sagen über das, was in den Schützengräben vorging. Denn in Großbritannien, in Deutschland, Frankreich und allen anderen am Krieg beteiligten Ländern peitschten die Kriegsministerien die niedersten Nationalgefühle auf – wie grandios es sei, für das Vaterland zu sterben – und unterdrückten die Wahrheit über den Horror der Schützengräben. Deshalb fühlten sich die Soldaten von ihren eigenen Leuten

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