Schritte im Schatten (German Edition)
zitiert, scheint das in Vergessenheit geraten zu sein. Ich treffe Leute, die sagen, wie gehemmt, wie »sexscheu« sie in den Fünfzigern waren, und wenn ich ihnen meine kleine Geschichte von dem Hexer auf der Suche nach einer Jungfrau erzähle, dann wollen sie sie einfach nicht glauben. Aber ich kann mich an keine Zeiten der Entbehrung erinnern und auch nicht an Leute, die ängstlich neben mit Verboten eingezäunten Betten hockten. Während des Krieges blühte der Sex natürlich, weil er das in Kriegszeiten immer tut, aber er war romantisch, wegen der kurz bevorstehenden und möglicherweise todbringenden Trennungen. Und in den Fünfzigern schien jedermann »damit beschäftigt« zu sein. »Das kann nur bei Ihren Freunden in London so gewesen sein«, kommt der Protest. »Oh, wenn ich nur in den Sechzigern im richtigen Alter gewesen wäre. Ich habe meine ganze Zeit damit verbracht, von Mädchen zu träumen.« Oder Männern, je nachdem.
Die Romane aus dieser Epoche aus der Provinz – immer ein akkurates Zeitbild – berichten nicht über sexuelle Hungersnöte.
Diese ganze Sache ist für mich ein Mysterium. Manche Dinge müssen Mysterien bleiben. Ich kann nur berichten, dass die Leute eine ziemlich gute Zeit zu haben schienen: Das Vergnügen war keinen Beschränkungen unterworfen – wenn Vergnügen das richtige Wort ist. Aber darüber später mehr.
Mein unwahrscheinlichster Besucher war Henry Kissinger. Das kam so. Wayland Young [32] , noch weit davon entfernt, Lord Kennet zu sein, war zu einer Art Verbindungsmann zwischen der amerikanischen und der britischen Linken geworden, vermutlich deshalb, weil er in so vielen Zeitungsfotos über die Aldermaston-Märsche aufgetaucht war; niemand konnte seiner attraktiven Familie widerstehen – der gut aussehende Wayland, seine reizende Frau, all die hübschen Kinder –, die so demokratisch mit den Massen marschierte. Henry Kissinger wollte repräsentative Mitglieder der »Kampagne für atomare Abrüstung« treffen. Der größte Teil der Linken steckte im Wahlkampf. Ich hatte rundheraus erklärt: Nein, ich werde nicht für die Labour Party agitieren, kein Geld für eine gute Sache erbetteln, nicht die
New Left Review
verkaufen, keine Reden halten (»Wohin steuert die Linke?« oder »Welchen Preis zahlt Großbritannien?«). Mein Job ist es, zu schreiben, und wenn euch das nicht passt, dann müsst ihr euch eben damit abfinden. Ich hatte diese Schlacht in Salisbury, Südrhodesien, geschlagen, gegen wesentlich zähere Opponenten, als London aufbieten konnte. Mit anderen Worten, es war Zeit vorhanden, sich mit Kissinger zu treffen. Ich war keine typische Repräsentantin der Neuen Linken, wohl aber der Kampagne für »einseitige atomare Abrüstung« (was keinen Unterschied machte, der die Amerikaner hätte beeindrucken können, denn für sie waren wir ohnehin alle Kommunisten). Mochte Henry Kissinger auch wie ein Deutscher wirken – denn es war ein gesunder junger Deutscher, der diese grässliche Betontreppe hinauf und in meine Wohnung stürmte –, er blieb doch stets der wohlhabende Amerikaner mit kurz geschnittenem Haar, der in dieser unansehnlichen Umgebung zu groß, zu frisch und zu brillant wirkte. Es ist schwer, die Atmosphäre dieser Begegnung zu schildern, weil die Zeiten sich inzwischen von Grund auf geändert haben. Über die Vergangenheit zu berichten ist immer ein Problem. Tatsachen
sind
einfach: Dies und das ist passiert; aber im Kontext einer Zeit gesehen, wirken viele Verhaltensweisen – Tatsachen –, gesellschaftliche wie persönliche, einfach geisteskrank. Während der Kalte Krieg in Großbritannien keine große Rolle mehr spielte – ganz einfach, weil die neue Jugend ihn für albern hielt und er in Großbritannien außerdem nie so mörderisch gewesen war –, befand er sich in den Vereinigten Staaten auf einem Höhepunkt. Amerikaner, die ihre Heimat aus politischen Gründen verlassen hatten, erzählten, was dort vorging, und die britische Jugend fand das alles unglaublich. Die Kommunistische Partei war in den Vereinigten Staaten immer winzig gewesen, und ihr Denken und Fühlen blieb, der Wirkung nach zu urteilen, auf die Partei selbst beschränkt. In Europa aber war »jedermann« Kommunist gewesen oder hatte dem Kommunismus nahegestanden. Früher Kommunist, aber jetzt keiner mehr zu sein – das galt für die meisten Leute, denen man begegnete. Aber das haben die Amerikaner nie begriffen. Wenn man heute liest, was Edgar Hoover vom FBI oder
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