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Schubumkehr

Schubumkehr

Titel: Schubumkehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Menasse
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setzen als im rechten Winkel.
    Ja schon, aber – ich weiß nicht. Es hat so etwas, so – wußten Sie zum Beispiel, daß die amerikanische Armee im Zweiten Weltkrieg vor der Invasion Süditaliens Flugzeuge über Sizilien und Kalabrien kreisen ließ, die lange Fahnen mit einem großen L hinter sich herzogen? L wie Liberty, ich meine
    Vielleicht hat dieses L auch Lucky Luciano bedeutet, als Botschaft für die Mafia-Bosse, damit sie mit den Amerikanern kollaborieren – wie auch immer, Fahnen sind natürlich Träger von Symbolen, aber das hier sind Arbeiterhäuser, bei denen Fremdenzimmer angebaut wurden, nichts weiter.
    Arbeiterhäuser, an die Fremdenzimmer angebaut wurden – das ist für Sie kein Bild von symbolischer Bedeutung? Und alle L-förmig, L wie – Halt! Mir fällt etwas auf. Das ist ja unglaublich! Gehen Sie bitte noch einmal zurück, zurück, ja, und jetzt wieder vor, in Zeitlupe. Sehen Sie, sehen Sie jetzt, daß
    Was?
    Wir haben uns geirrt. Der erste Eindruck hat getäuscht. Das sind gar keine L.
    Ich verstehe nicht.
    Na sehen Sie es denn nicht? In der Abfolge wird es deutlich. Ein einzelnes Haus ist kein Zeichen in sich, noch kein ganzes Symbol, ist nicht bloß ein L, das schon alleine etwas bedeutet. Das muß man zusammensetzen. Ein L ist nur ein Teil, ein Viertel des ganzen Symbols, ein Haken, und erst jeweils vier Häuser zusammen, vier solche Haken ergeben das ganze Zeichen, ergeben ein
    Nein! Das sehe ich nicht. Das ist ein Unsinn. Das können Sie nicht sehen. Das wollen Sie sehen. Eine unzulässige Interpretation. Ich hasse das. Wie schuldig oder unschuldig auch immer man in diesen Häusern gewesen sein mag, diese Anbauten sind unschuldig. Meinetwegen grotesk, komisch, lächerlich, was Sie wollen. Aber sie sind unschuldig. Und mit Ihrem spekulativen, denunzierenden Symbolismus kann man
    Was ist das?
    Sehen Sie? Na sehen Sie? Sie haben sich getäuscht. Sie haben überinterpretiert. Das ist doch jetzt wohl eindeutig.
    Man sieht als Standbild den an eine Wand gehefteten Plan von Komprechts. Die Straße, die vom Bahnhof zum Hauptplatz und von dort zum Braunsee führt, ist mit einem starken Stift nachgezogen – sie ergibt die Form eines L. Eine Stimme aus dem Off sagt: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Band zwölf, L bis Mythisch. Labsal? Labyrinth? Lache? Lack? Lade? Lager? Lamm?
    Was soll das? Er wird doch jetzt nicht das ganze Wörterbuch aufsagen, das wäre
    Landesart? Landesverteidigung? Landung? STOP.
    Gehen wir weiter, sagte Herr Tobisch. Wir kommen zum Hauptplatz. Hier, die Kirche. Wer soll wegen dieser Kirche kommen? Nullachtfünfzehnbarock. Die Grünen, die Alternativen, interessieren sich für einen Sakralbau doch nur dann, wenn er von der Kunstgeschichte heiliggesprochen wurde. Das wissen wir. Bitte, das Gemeindeamt. Sechziger Jahre. Hier, das SPAR-Kaufhaus. Kein Kommentar. Hier, hier, bitte, und hier. Wissen Sie, was ich meine? Na gut, hier haben Sie den Hauptplatz in der Totale. Was springt ins Auge? Das Kriegerdenkmal. Ich muß Sie wohl nicht daran erinnern, daß unsere Zielgruppe wesentlich aus Pazifisten besteht. Und dann noch SIE GABEN IHR LEBEN HIN FÜR DIE HEIMAT, das käme unserer Zielgruppe garantiert in die falsche Kehle. Was heißt wieso? Herr Bürgermeister! Sie gaben ihr Leben hin für die braune Mordmaschinerie, sagen die, ja ja, ich weiß schon, ich sage ja: sagen die! Gehen wir weiter. Die Straße runter zum See. Wieder lauter Baustellen, eingerüstete Häuser, ja sicher, jetzt sind sie fertig, die Fremdenzimmer sind zweifellos in Ordnung, die Touristen werden sich darin wohlfühlen, keine Frage, aber können wir sie davon mit der Ansicht eines Straßendorfes überzeugen? Dann kommt der See. Der See, ja, der ist ein Argument. Und den haben Sie daher auch hier wieder im Prospekt. Ein idyllisches Bild, das zur Kontemplation und Besinnlichkeit ebenso einlädt wie zu mannigfacher Aktivität.
    Plötzlich war das Seeufer voller Menschen. Roman war so überrascht, daß er sich im ersten Moment hinter die Verschalung des Hochsitzes duckte und angespannt hervorspähte. Mit Motorsägen schnitten sie die Birken am See um. Mit einem Caterpillar rissen sie die Strünke aus der Erde. Die gefällten Birken wurden zersägt und zusammen mit den Strünken auf einen Lastwagen geladen. Roman nahm seine Kamera und legte an. Plötzlich war die alte Frau, die in dem steinernen Haus beim Steinbruch wohnte, da unten beim See. Sie stemmte die Hände in die Hüften. Sie schrie und

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