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Schubumkehr

Schubumkehr

Titel: Schubumkehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Menasse
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den Augenwinkeln, wie die eben noch angestarrte Fläche sich wieder ausdehnte und deren Grenzen diffuser wurden, während das, was er jetzt fixierte, sich zusammenzog und scharf abgrenzte. Schnell huschte sein Blick zurück, und die Schatten fluteten auseinander, um sich an dem Punkt wieder zusammenzuziehen, den er nun anstarrte. So wogte die Dunkelheit in seinem Zimmer, als würden unsichtbare Flügel schlagen, wogte, bis er die Augen schloß.
3.
    Wir sind ein junges Team. Die beiden Kinder, die am Ufer des Sees spielten und herumliefen – alles nicht wahr, Lüge, ein Schattenreich, warum diese grelle Sonne? Um Schatten zu werfen, die herumhüpfenden Schatten der Kinder zwischen den Schatten der jungen Bäume. Frau Nemec hörte das Brummen der Fliegen, das Surren der Mücken, sie sah eine Kindheit, in der hier an diesem Ort das Brummen der Fliegen und das Surren der Mücken zu hören war, sonst nichts, eine jenseitige Kindheit. Keine Sirene, keine Detonation, kein Dröhnen der schweren Maschinen, und nicht die Schläge der Bossierhämmer, und nicht das Geheul der Konvois der Lastwägen, das alles schien erstickt im Schlagen der Schmetterlingsflügel, erstickt im Brummen der Fliegen, sie empfand keinen Trost, als sie nach Hause kam und die toten Fliegen sah, die auf dem Fliegenstreifen klebten, der von der Küchenlampe herunterhing. So kündigt sich der Tod an.
    Ein Fuß auf dem Grab, plötzlich sinkt der Fuß ein, bis zum Knie, ein Schrei, Laß dich nicht runterziehen! Und dann zu Hause, wer stand plötzlich vor ihrem Haus? Die drei Männer, und Frau Nemec wußte, jetzt geht es um Leben und Tod. Nein, es war kein Traum, auch wenn sie diesen Tag als Alptraum erlebte.
    Zunächst der Besuch auf dem Friedhof, wo sie Herrn Ölzant sah, dessen Frau drei Tage zuvor begraben worden war. Ölzant nickte, zu keinem Wort fähig, es war tatsächlich totenstill auf dem Friedhof. Allzu plötzlich ist seine Frau gestorben, wer hat denn damit gerechnet, daß sie zuerst sterben würde, er nicht, sie nicht, niemand. Sie war alleine zu Hause gewesen, als sie einen Gehirnschlag gehabt hatte. Er war erst Stunden später nach Hause gekommen, er hatte im Steinbruch gearbeitet, ach was gearbeitet, schwache Echos vergangener Tage hatte er produziert in dem stillgelegten Steinbruch. Sie ist auf dem Steinboden in der Küche gelegen, in einer weißen Lache, ihr weißes Haar in der weißen Lache, überall weiße Spritzer, sie hatte sich gerade Milch warmmachen wollen, als der Schlag sie getroffen hatte.
    Anders als Frau Nemec’ verstorbener Mann hatte Ölzant keine Gruft gebaut, nicht vorgesorgt, er, der an dem langen Satz arbeitete, hatte nicht daran gedacht, daß man den Schlußstein fertig und bereit haben mußte, und so lag seine Frau jetzt unter der Erde und hatte nicht einmal einen Grabstein. Erde über der Frau eines Steinmetzes!
    Frau Nemec sah zu, wie Ölzant eine neue Kerze in die Laterne am Kopfende des frischen Grabes geben wollte, einen Fuß stellte er auf den Erdhügel, aber die Erde hatte sich noch nicht gesetzt, noch nicht gefestigt, und plötzlich sank der Fuß in der lockeren Erde ein, das Bein sank ein bis zum Knie, Ölzant schrie auf, ruderte mit den Armen.
    Als hätte seine Frau schon nach ihm gegriffen, dachte Frau Nemec auf dem Heimweg, als sie die Kinder sah, die sie nicht hören konnte, weil sie zu weit entfernt waren, in diesem gespenstisch stillen Seepanorama, in dieser falschen Idylle, wo ihre eigene Kindheit, ihr ganzes Leben von Lärm erfüllt gewesen ist, vom Leben des Steinbruchs, von den Sirenen der Sprengmeister, den Detonationen der Sprengungen, vom Gedröhne der Maschinen und Lastwägen. Aber jetzt brummten die Fliegen über dieser Szenerie wie über einem Kadaver.
    Frau Nemec schwitzte, als sie zu Hause ankam, in ihrem kühlen Haus, und bald darauf kamen die drei Männer.
4.
    Zwei Kinder. Ein Junge und ein Mädchen. Sie waren gleich alt, zumindest waren sie gleich groß. Wie alt waren sie? Schwer zu schätzen für einen, der keine Kinder hatte. Der sich überhaupt schwer tat, jemandes Alter zu schätzen. Vielleicht acht. Sie gingen sicherlich schon zur Schule. Aber unwahrscheinlich, daß sie schon über die Grundschule hinaus waren. Acht. Oder neun. Sie liefen über die Wiese beim See. Das Mädchen lief voran, drehte sich im Laufen nach dem Jungen um. Riefen sie einander etwas zu? Es war nichts zu hören. Das Mädchen blieb stehen, der Junge schloß zu ihr auf. Das Mädchen hob etwas vom Boden auf. Was?

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