Schuld währt ewig
war S-Bahn-Fahrer. Er arbeitete im Schichtdienst und würde heute erst spät heimkommen.
Ginas Eltern waren nach einem Wasserrohrbruch in ihrer Wohnung eigentlich nur vorübergehend in die WG gezogen. Und nun waren sie noch immer hier, da sich alle mit diesem Arrangement wohl fühlten. Vor allem Dorothee, die arbeitslos war und in der Haushaltsführung ein neues Betätigungsfeld gefunden hatte.
Nach dem Essen halfen alle den Tisch abzuräumen. Als sie fertig waren, schlug Gina Dühnfort vor, auf ein Bier ins Outland zu gehen. Sie schlüpften in Jacke und Mantel und traten vor das Haus.
Es hatte aufgehört zu regnen. Die Lichter der Laternen spiegelten sich im feuchten Asphalt. Der Geruch nach Schnee lag in der Luft. In sechs Wochen war Weihnachten, und er wusste noch nicht, wie er die Feiertage dieses Jahr verbringen wollte. Vielleicht auf Sylt mit seinem Vater? Oder bei seiner Mutter im Elsass? Ob Gina mitkommen würde?
Sie hakte sich bei ihm ein. »Sag mal, wie schaut es eigentlich mit dem Seminar aus? Die Frist für die Anmeldung läuft demnächst ab.«
Diese Entscheidung lag ihm ein wenig im Magen, obwohl er sie so objektiv wie möglich getroffen hatte. »Alois ist noch nicht lang genug dabei. Außerdem fehlt ihm der richtige Biss und etwas von deiner Hartnäckigkeit. Du wirst also daran teilnehmen.«
Gina blieb vor einem Schaufenster stehen. Er mochte ihre Augen. Sie waren so dunkel wie die schwarze Schokolade, die er so gerne aß. »Alois wird das in den falschen Hals bekommen. Das ist dir doch klar, oder? Noch ein Grund, dass wir uns vorerst nicht als Paar outen sollten.«
»Das Seminar findet erst im September statt. So lange können wir das nicht verheimlichen.«
»Aber wenn wir jetzt damit rausrücken, kann ich mir den Kurs abschminken. Lass uns bis Anfang des neuen Jahres warten. Okay?«
Ob es noch so lange gutgehen würde? Dühnfort hatte Zweifel. Er legte seinen Arm um Ginas Schultern. »In Ordnung.«
Der kurze Spaziergang durch das Viertel entspannte ihn. Die prickelnde Luft, die erleuchteten Läden, in denen Bio-Lebensmittel, selbstgefertigte Kleidung und Fairtrade-Produkte ebenso angeboten wurden wie Artikel aus der Massenproduktion. Aldi neben Biokost. In Haidhausen hatte alles Platz.
Im Outland war es voll. Sie ergatterten zwei freie Plätze vor dem riesigen Aquarium, in dem tropische Fische träge ihre Runden zogen. Forever summer. Gesprächsfetzen und Loungemusik drangen herüber. Der Geruch von gebratenem Fleisch und Kaffee und ein wenig nach klammen Wollmützen und feuchten Schuhen lag in der Luft. Dühnfort nahm Gina die Jacke ab und hängte sie mit seinem Mantel an die Garderobe. Als er zurückkam, bestellte sie bereits zwei Lager.
Beim zweiten Bier erzählte Gina, dass Theo im Februar ausziehen würde. »Rebecca und er haben schon eine Wohnung gefunden. Drei Zimmer in Neuhausen.«
»Schön. Das freut mich für die beiden.«
Gina drehte ihr Glas in der Hand. »Es wird also ein Zimmer bei mir frei.«
Sie suchte einen neuen Mieter. Oder erwartete sie, dass er nun sagte, er würde das Zimmer nehmen? Warum fragte sie ihn nicht direkt? Der Gedanke, aus seiner Wohnung auszuziehen, wollte sich nicht denken lassen. Er lebte gerne darin, mochte seine Küche mit dem kleinen Balkon und dem Blick, den er von dort auf den Alten Südfriedhof hatte, auf das Grab des Musikers und den bröselnden Marmorengel, der es seit über hundert Jahren bewachte. Darauf zu verzichten, um in eine Wohngemeinschaft zu ziehen … wenn auch in Ginas … Es erschien ihm unmöglich. Erst als er bei dieser Überlegung angelangt war, wurde ihm die eigentliche Botschaft klar. Gina wollte mit ihm zusammenleben. Ein freudiger Schreck durchfuhr ihn.
Aber nicht in ihrer WG , dachte er. Und meine Wohnung ist zu klein für uns beide.
Mit dem Zeigefinger fuhr sie über die Falte an seiner Nasenwurzel. »Du grübelst einfach zu viel.«
12
Gegen Mittag kehrte Sanne aus München zurück. Sie hatte bei Frederick die Bögen abgegeben und neue Aufträge mitgenommen. Darunter ein echtes Schmuckstück, das sie restaurieren sollte: einen Cellobogen aus dem 18. Jahrhundert. Der Frosch war aus Schildpatt und mit einer französischen Lilie verziert. Ein wunderbarer Bogen, allerdings in einem desolaten Zustand.
Am Dorfplatz bog sie ab. Der Auspuff röhrte. Das Hardtop des Porsche war nicht dicht. Kalte Luft zog ihr in den Nacken. Die Federung war ebenso hart wie der Fahrersitz. Jedes Schlagloch und jede Bodenunebenheit spürte
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