Schuld währt ewig
Das war aber schon das Einzige, das stimmte.
Eugen ging in die Küche und verstaute die Einkäufe im Kühlschrank.
Weshalb hatte er sich nicht in das Gespräch gemischt? Er wusste es doch besser. Besser als seine Nachbarn, besser als die Polizei. Die ironischen Fragen der Hausbewohner, ob denn sein Fotoapparat kaputt sei, hatte er ignoriert.
Etwas war mit ihm geschehen, als er Sekunden nach dem Unfall vom Fenster zurückgetreten war und die Vorhänge zugezogen hatte. Warum hatte er das getan? Er wusste es nicht genau.
Eugen hatte eine Theorie, warum der Fahrer erst so spät gebremst hatte. Er war besoffen gewesen und daher in seiner Reaktionsfähigkeit verlangsamt. Deshalb hatte er erst gut zwanzig Meter nach dem Zusammenstoß angehalten. Suff war auch der Grund, weshalb er so langsam gefahren war. Höchstens vierzig. Entweder rasten sie, die Besoffenen, oder sie schlichen. Der Mann war kein Killer, wie alle im Haus behaupteten. Der war ein Biedermann, der im Rausch einen dämlichen Fehler gemacht hatte und dafür nicht geradestehen wollte. So war das. Da war sich Eugen sicher. Doch er wollte Gewissheit. Weshalb? Auch diese Frage blieb unbeantwortet.
Jedenfalls würde er jetzt einen kleinen Ausflug machen. Das mit dem Biedermann hatte er nämlich schon herausgefunden. Er war ja erst seit einigen Wochen Frührentner. Noch hatte er Freunde. Und darunter auch einen, der ihm einen Gefallen schuldete. Diese Schuld hatte er heute eingefordert, und sie war – wenn auch widerwillig – beglichen worden.
Mit einem Blick auf die Uhr vergewisserte er sich, dass der arbeitende Teil der Bevölkerung allmählich Feierabend machte. Er prägte sich die Adresse ein und studierte nochmals die Verkehrsverbindung.
Eine halbe Stunde später verließ er das Haus. Der alte Mantel schützte ihn vor Kälte, ebenso wie Schirmmütze, Schal und Handschuhe. Seine Hüfte schmerzte bei jedem Schritt. Das Lederetui mit dem Fernglas trug er am Riemen um die Schulter. Früher hatte er mit Margot oft Wanderungen unternommen und Vögel beobachtet. Margot. Sie fehlte ihm. Doch diesen sentimentalen Anflug schob Eugen flugs beiseite. Er fühlte sich seltsam beschwingt.
Der Bus kam pünktlich. Alle Plätze waren besetzt, niemand bot ihm einen an. Doch heute zückte er nicht den Schwerbehindertenausweis und forderte sein Recht ein. Es waren ja nur zwei Stationen. Die anschließende Fahrt mit der U-Bahn dauerte allerdings bedeutend länger. Der Zug war voller Pendler. Nach zehn Minuten im Gedränge scheuchte Eugen doch einen jungen Mann auf. Der Schmerz in der Hüfte hatte sich festgebissen und wollte das beinahe heitere Gefühl vertreiben, dieses Gefühl von Freude, das er so lange nicht gespürt hatte. Gleichzeitig irritierte es ihn. Weshalb freute er sich? Ein schrecklicher Unfall war geschehen. Ein Mensch war gestorben. Eine Frau hatte ihren Mann verloren, ein ungeborenes Kind seinen Vater. Und es lag in seiner Macht, diesen drei Menschen Gerechtigkeit zuteilwerden zu lassen.
Weshalb saß er in dieser U-Bahn? Aus Langeweile oder Neugier? Weil er Gewissheit erlangen wollte?
Beinahe hätte er die Station verpasst. Er schaffte es gerade noch auszusteigen, da schloss sich schon die Tür hinter ihm. Er folgte dem Strom der Pendler und erreichte eine Reihenhaussiedlung.
Dicht an dicht standen die Häuser. Autos auf Garagenvorplätzen. Bälle, Roller und Trampolins in den Gärten. Es war dunkel geworden. Laternen erhellten Straßen und Gehwege. In den meisten Häusern brannte Licht. Frauen standen in Küchen und bereiteten das Abendessen zu, während die Kinder vor Fernsehern saßen oder an den Schreibtischen in ihren Zimmern und Hausaufgaben machten. In Eugen zog sich etwas schmerzhaft zusammen. Neid, wie er überrascht feststellte.
Irgendwo musste er falsch abgebogen sein, denn er fand die Adresse nicht, nach der er suchte. Ein Mann mit Hund kam ihm entgegen. Doch etwas hielt Eugen ab, nach dem Weg zu fragen. Stattdessen zog er die Schirmmütze tiefer in die Stirn und senkte den Blick. Er ging so zurück, wie er gekommen war, entdeckte die Abzweigung, die er zuvor übersehen hatte, und fand auch die Hausnummer, nach der er suchte. Ein Reiheneckhaus. Der Vorgarten von Koniferen gesäumt. Auf dem Briefkasten stand der Name, den er in Erfahrung gebracht hatte.
Die Garage war fensterlos und geschlossen. Ob der SUV darin war? Im Haus war es dunkel. Lange konnte er hier nicht herumlungern. Eugen sah sich um und entdeckte einen Spielplatz schräg
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