Schuld währt ewig
Entschluss wegen des Lehrgangs noch einmal überdenken müssen. Doch zu Heigl rennen und seinen Vorgesetzten hinzuhängen war nun gar nicht sein Ding. Überhaupt nicht. Er war kein Denunziant. Nie gewesen. Keiner, der zum Lehrer rannte und petzte. Keiner, der beim Bund die Kameraden nach einem entwürdigenden Aufnahmeritual anschwärzte. Keiner, der es einem Kumpel steckte, wenn die Frau fremdging. Was sollte er tun?
Genau betrachtet, konnte er nicht sicher sein, ob Tino und Gina tatsächlich miteinander ins Bett gingen. Was hatte er gesehen? Eine vertrauliche Geste. Mehr nicht. Genau genommen. Und doch: Wie Tino sie dabei angesehen hatte. Da lief etwas zwischen den beiden. Er würde ihn zur Rede stellen. Unter vier Augen.
Kurz darauf erschien Gina im gemeinsamen Büro und packte ihre Sachen zusammen. »Ich mach Schluss für heute. Also, bis morgen.« Grüßend hob sie die Hand und verschwand aus dem Zimmer.
Sie wirkte so unbefangen, als hätte sie nichts zu verbergen. Täuschte er sich? War da nichts? Dann würde er sich lächerlich machen, bei diesem Vieraugengespräch. Was wollte er damit eigentlich erreichen? Alois war sich darüber nicht so ganz im Klaren. Es ging nicht nur um den Kurs im Herbst. Er wollte sich nicht länger verarschen lassen. Er wollte nicht der Dumme sein, der auf ewig außen vor war in diesem Team. Team? Ein Pärchen und ein Kuli.
Und wenn da doch nichts war?
Alois schrieb noch ein Protokoll, griff dann nach iPhone und Mantel und verließ eine halbe Stunde nach Gina das Büro. In Tinos brannte noch Licht. Er telefonierte. Alois sah rein und verabschiedete sich. Tino wünschte ihm einen schönen Abend und sagte, dass auch er gleich gehen würde.
Okay. Alois wollte das jetzt wissen. Und er hatte auch schon eine Idee, wie er das machen würde. Dennoch fühlte er sich einen Moment lang unbehaglich.
52
Am Autobahnkreuz München-Nord begann sich Schnee in den Regen zu mischen. Er fiel in dicken, nassen Flocken, klatschte auf die Windschutzscheibe des gemieteten Golfs und wurde beiseitegefegt. Fallen, wischen. Fallen, wischen. Im monotonen Takt verrichteten die Scheibenwischer ihre Arbeit. Schwarzgraue Wolkenkissen hingen über der Landschaft, als wollten sie alles Leben ersticken.
Sanne hatte sich auf der rechten Spur hinter einen LKW gehängt. Seit zwei Stunden fuhr sie mit neunzig über die Autobahn. Nicht wetterbedingt. Der Schnee taute sofort auf dem noch warmen Asphalt.
Ihr Porsche stand im Hof eines Abschleppunternehmens in Fischbach. Wirtschaftlicher Totalschaden. Eine Reparatur wäre pure Liebhaberei. Doch sie hatte Anweisung gegeben, den Wagen nicht zu verschrotten. Sie überlegte, ob sie ihr Sparbuch plündern sollte, um ihn instand setzen zu lassen. Doch das war ihr kleinstes Problem.
Der Bußgeldbescheid würde ihr in den nächsten Tagen zugehen, und dann musste sie den Führerschein für drei Monate abgeben. Drei Monate ohne Auto in einem Kaff. Wie sollte das gehen? Doch das war momentan ihre geringste Sorge. Sie stierte auf die Lichter des vorausfahrenden Lasters und hielt einen üppigen Sicherheitsabstand ein, denn sie konnte sich nicht auf den Verkehr konzentrieren.
Thorstens Worte arbeiteten in ihr wie eine Abrissbirne. Fragen donnerten gegen die Mauer des Vergessens und rissen sie weiter ein. Woher kam sie, wer hatte sie errichtet? Ihre kranke Psyche vielleicht? Sanne lachte auf.
War sie in der vergangenen Nacht wirklich drauf und dran gewesen, gegen einen Brückenpfeiler zu rasen? Ihrem Leben ein Ende zu machen? Wie hatte sie nur vergessen können, was in jener Nacht geschehen war?
Entscheidende Momente werden nicht erinnert. Immer häufiger auftretende Flashbacks, Panikanfälle, deine Flucht aus dem Leben, deine Schlafstörungen und Alpträume, dieses Gefühl von Bedrohung, Sanne. Das sind Symptome einer Posttraumatischen Belastungsstörung. Warum weigerst du dich, das zu erkennen und endlich eine Therapie zu machen? Zählt das auch zu deiner Selbstbestrafung, wie dein Selbstboykott, glücklich zu werden? Ist das deine Art von Sühne?
Litt sie wirklich an einer Posttraumatischen Belastungsstörung, wie Thorsten das schon seit Jahren behauptete? Wie hatte sie nur vergessen können, dass …
Hier verhakten sich ihre Gedanken in einer Endlosschleife, die sich immer wieder neu bei der unausgesprochenen Frage zu drehen begann, wie sie das hatte vergessen können.
Wieder sah sie ihre Hand, die nach Ludwigs Knöchel griff.
Sanne zuckte zusammen und verriss beinahe
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