Schuld währt ewig
das Steuer. Dabei entdeckte sie das Hinweisschild zur Ausfahrt. Fast wäre sie vorbeigefahren und schaffte es gerade eben, die Autobahn zu verlassen. Sie musste sich konzentrieren. Fünf Minuten noch, dann war sie daheim. Mit einem Griff schaltete sie das Radio ein. Verkehrsmeldungen. Aufgrund des ersten Schneefalls gab es Unfälle auf der A99. Auf der Wasserburger Landstraße wartete eine Radarfalle kurz vor Haar stadteinwärts auf Raser. Stau auf dem Mittleren Ring. Der Moderator kündigte den nächsten Song an. »Und nun Musik. Eric Clapton, unplugged. Tears In Heaven.«
Gitarrenmusik und Claptons spröde Stimme erklangen. Ein trauriges Lied. Was sonst? Sanne wollte ausschalten, doch etwas hinderte sie daran. Die Melodie ergriff Besitz von ihr, die Worte hallten in ihr nach. Jedes einzelne.
Would you know my name, if I saw you in heaven?
Would it be the same, if I saw you in heaven?
Ihre Hand an Ludwigs Knöchel.
Sanne keuchte auf. Warum hatte sie das nur getan!
So hast du es mir erzählt, Sanne. Du musst endlich die Konsequenzen tragen. Erst dann wirst du dein Leben wieder auf die Reihe kriegen. Thorstens Stimme dröhnte in ihrem Schädel, als säße er neben ihr.
Would you hold my hand, if I saw you in heaven?
Would you help me stand, if I saw you in heaven?
Ihre Hand hatte nicht auf der Türklinke gelegen!
Sie hatte Ludwig umgebracht!
Kälte füllte ihre Brust.
Beyond the door, there’s peace I’m sure.
And I know there’ll be no more … tears in heaven.
Sanne schaltete das Radio aus.
Als sie endlich den Leihwagen parkte und die Haustür aufsperrte, hatte sie all ihre Kraft gebraucht, um heil nach Hause zu kommen. Sie fühlte sich erschöpft und unendlich müde. Warum hatte Thorsten sie mit dieser furchtbaren Wahrheit konfrontiert? Weshalb hatte er sie aus dem Vergessen geholt?
Was sollte sie tun?
Wie würde ihr Leben weitergehen?
Natürlich musste sie die Konsequenzen tragen. Alles würde sich ändern.
Herr Kater kam aus der Küche gelaufen und schoss durch den noch offenen Türspalt hinaus. Der arme Kerl. Seit gestern Nachmittag war er alleine hier gewesen.
Sie musste zur Polizei gehen. Oder besser zu einem Anwalt.
Morgen. Heute fehlte ihr die Kraft dafür. Nachdem sie diesen Entschluss gefasst hatte, fühlte sie sich nicht besser. Stelle dich deiner Tat. Nimm die Strafe auf dich. Es fühlte sich unwirklich an. Ihr Leben geriet jeden Tag ein Stück mehr aus den Fugen. Alles verschob sich. Wann hatte das begonnen? Und weshalb fühlte es sich so seltsam und verstörend falsch an?
Tief in ihr arbeitete eine brodelnde Unruhe. Sanne griff nach dem Putzzeug und schrubbte das Bad, danach wusch sie Wäsche, bezog das Bett neu, räumte die Küche auf. Sie machte Ordnung. Genau das sollte sie auch in ihrem Leben tun. Es wurde schon dunkel, als sie völlig erschöpft Eimer und Schrubber wegstelle, sich ein Glas Wein einschenkte und auf das Sofa sank. Im Fernsehen lief eine Serie. Die sah sie sich an. Besser nichts denken.
In der Werbepause klingelte das Telefon. Sicher Thorsten. Vermutlich machte er sich Sorgen, weil sie letzte Nacht einfach abgehauen war. Doch es meldete sich niemand.
Stille. Schweigen. Atmen. So wie neulich.
Herrgott! Was sollte der Scheiß? Wut flammte auf und vertrieb Erschöpfung und Lethargie. »Aha. Ein neuer Versuch. Gilt unsere Wette noch? Diesmal gewinne ich!«
Der Anrufer schwieg weiter. Na klar. Das gehörte zu seiner Rolle. Aber diesmal würde er nicht triumphieren. Sanne presste den Hörer ans Ohr. Leises Atmen. Kein Keuchen oder sonstige obszöne Geräusche. Im Hintergrund bellte ein Hund. Nur einmal. Ganz kurz.
Hamlet?
War ihr Nachbar etwa der Anrufer? Der Highlander?
Etwas in ihr weigerte sich, das zu glauben. Doch was wusste sie schon von ihm? Nichts. Sie legte das Mobilteil lautlos aufs Sofa, schlich in die Küche und sah aus dem Fenster. Bei ihm brannte Licht.
Die Werbepause war vorbei. Der Film lief weiter. Musik und Dialoge klangen bis in die Küche. Prima. Er würde denken, sie wäre noch dran. Auf leisen Sohlen ging sie in die Werkstatt, verließ ihr Haus durch die Hintertür und kletterte über den Gartenzaun. Im Schatten der Hausmauern überquerte sie die Straße, stieg über Domegalls Zaun und näherte sich seinem Haus von hinten. Ihr Herz schlug viel zu schnell. Es hämmerte gegen den Rippenbogen. Ihr Atem klang laut wie ein Orkan. Ihre Hände wurden feucht. Sie fror, und eine Mischung aus Kälte, Anspannung und Angst ließ sie zittern.
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