Schuld währt ewig
Was war der Grund ihres Anrufs? Kennen sie die Selbsthilfegruppe, kennen sie Subvento? Sagen ihnen die Namen Flade und Oberdieck etwas? Was wissen sie über die Todesfälle Lena Meinhardt, Steffi Schünemann und Anne Prokop? Gina, kannst du das mit ein paar Leuten übernehmen?«
»Natürlich.«
»Dass wir die Postkarte im Fall Hasler haben, verdanken wir Alois, der sich durch den Müll des gesamten Hauses gegraben hat.« Dühnfort nickte Alois zu, der kurz von seinem Handy aufblickte und dann weiter an einer SMS schrieb.
»Wie machen wir weiter? Was bei Flade und Martina passt, passt bei der Hasler nicht. Wie findet unser Mann seine Opfer? Zeitungsartikel, Fernsehen, Notarzt, Polizei, Ermittlungsbehörden. Wir haben keine Überschneidungen gefunden. Bis auf Schülke, den Staatsanwalt, der bei Flade und Martina die Ermittlungsverfahren einstellen musste. War er auch in den Fall Hasler involviert?« Gina hatte das überprüfen wollen.
Sie schüttelte den Kopf. »Der Fall Hasler ist nicht auf seinem Tisch gelandet. Und im Fall Flade steht sein Alibi.«
Weshalb ging nichts voran? Arbeiteten sie mit einem falschen Ansatz? »Wem fällt dazu etwas Neues ein?« Dühnfort sah in die Runde.
Gina ergriff das Wort. »Ich frage mich gerade, warum wir eigentlich von ihm sprechen. Schließen wir eine Frau aus?«
Es lag an den Tatausführungen. Frauen mordeten anders. Und aus anderen Motiven. Trotzdem eine gute Frage, dachte Dühnfort.
Heinen erhob sich und trat neben Dühnfort. »Wenn ich kurz dazu etwas sagen darf?«
»Bitte.«
»Das erste Opfer wurde überfahren. Das zweite ertränkt. Dieser Einsatz von brachialer Gewalt ist männertypisch. Martina hat sich verzweifelt gewehrt und wurde dennoch unter Wasser gedrückt. Sie war eine gesunde und kräftige junge Frau, ihr Gegner war ihr körperlich überlegen.
Nur im Mordfall Hasler ist die Waffe eigentlich frauentypisch. Ein Medikament. Das hat in diesem Fall aber keine Bedeutung, die Rückschlüsse auf eine Täterin zulassen. Denn die Mordwaffe ist den Umständen des ursächlichen Unfalls angepasst. Außerdem ist anzunehmen, dass die Frau mit einer Waffe gezwungen wurde, die tödliche Dosis Tabletten zu schlucken. Vermutlich mit einem Messer oder einer Schusswaffe. Das spricht ebenfalls für einen Mann.
Frauen morden sehr selten, und dann mit anderen Mitteln und aus anderen Motiven. Und noch seltener sind Serienmörderinnen. Sie suchen einen Mann.«
Zustimmendes Raunen. Heinen setzte sich, und Russo ergriff das Wort. »Keine Einbruchsspuren bei der Hasler. Sie hat ihrem Mörder also die Tür geöffnet, und Martina muss freiwillig mit ihm gefahren sein. Das heißt, er wirkt entweder vertrauenerweckend, oder beide kannten ihn. Das spricht für die Annahme, dass er sich in ihrem Umfeld bewegt.«
Dühnfort setzte sich auf die Kante des Tischs. »Martina wohnte in Schwabing und ging zur Uni. Frau Hasler lebte am anderen Ende der Stadt in Sendling und verließ ihre Wohnung nur für Besorgungen. Wo kann es da Übereinstimmungen im Bereich des täglichen Kontakts geben?«
Gina schob eine Haarsträhne hinters Ohr. »Vielleicht ein Arzt oder der Fahrer vom Paketdienst oder ein Pizzaservice. Etwas in der Art. Ich checke das mal.«
»Ich glaube, dass wir unseren Mann im Umfeld des KIT oder der Selbsthilfegruppe finden werden. Es ist kein Zufall, dass beide miteinander verstrickt sind und bei zwei der drei Fälle im Einsatz waren. Wir müssen uns jeden Mitarbeiter noch einmal vornehmen.«
Alois meldete sich zu Wort. »Die KIT ler sind Helfer. Die machen das ehrenamtlich in ihrer Freizeit. Warum sollte einer, der sich good guy auf die Fahnen geschrieben hat, plötzlich zum Mörder werden?«
Das war die Frage, die Dühnfort auch beschäftigte. Seine Vermutung ging in Richtung Kompensation. Jahrelang hatte der Täter sein Rachebedürfnis unter Kontrolle, und dann war etwas geschehen, das diese wacklige Balance aus Rachebedürfnis und Selbstbeherrschung zusammenfallen ließ wie ein Kartenhaus.
»Warum rächt sich unser Täter an Menschen, die ihm nichts getan haben? Vermutlich hat er selbst etwas Ähnliches erlebt wie die Meinhardts, die Schünemanns und die Eltern von Anne Prokop. Ein ihm nahestehender Mensch starb, und es gab keine Gerechtigkeit. Der archaische Wunsch nach Rache ist da, doch etwas hindert ihn daran, zur Selbstjustiz zu greifen. Moralvorstellungen? Sein Glaube? Die Angst vor Strafe? Vielleicht auch sein Selbstbild. Er ist ein guter Mensch und will das bleiben.
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