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Schuldig

Schuldig

Titel: Schuldig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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stellte sich vor, wie Jason ihn abwehren wollte. Er dachte an sein Gespräch mit Daniel, an das große Pflaster auf den Knöcheln seiner rechten Hand.
    Â»Bin schon unterwegs«, sagte er zu Anjali.
    Â»He«, rief die Burger-King-Verkäuferin. »Was ist mit Ihrer Bestellung?«
    Â»Keinen Hunger mehr«, sagte er und scherte aus der Warteschlange vor dem Ausgabefenster aus.

    Â»Daddy«, fragte Trixie beim Spülen, »wie warst du in meinem Alter?«
    Ihr Vater wischte gerade den Küchentisch ab und antwortete ohne aufzusehen: »Ganz anders als du«, sagte er. »Leider.«
    Trixie wusste, dass ihr Vater nicht gern über seine Zeit in Alaska sprach, aber sie spürte immer stärker den Wunsch, mehr über seine Vergangenheit zu erfahren. Sie kannte ihren Vater als einen Mann, der behutsam einen Chrysippusfalter in den hohlen Händen hielt, damit Trixie die schwarzen Tupfen auf den Flügeln zählen konnte. Aber dieser sanfte und freundliche Mann wäre niemals fähig gewesen, brutal auf Jason einzuschlagen und selbst dann weiterzumachen, als sein blutendes Opfer ihn anflehte aufzuhören.
    Für Trixie konnte die Erklärung für diesen Widerspruch nur in dem Teil seines Lebens liegen, über den er nie sprechen wollte. Vielleicht war Daniel Stone ein ganz anderer Mensch gewesen, einer, der verschwunden war, als Trixie kam. Sie fragte sich, ob das für alle Eltern galt, ob sie alle ganz anders gewesen waren, ehe sie Kinder bekamen.
    Â»Wie meinst du das?«, fragte sie. »Wieso bin ich so anders als du?«
    Â»Das war ein Kompliment. In deinem Alter war ich eine Nervensäge.«
    Â»Wieso denn?«
    Daniel dachte einen Moment nach. »Na ja, ich bin zum Beispiel oft weggelaufen.«
    Trixie war einmal weggelaufen, als sie klein war. Sie war ein paarmal um den Block marschiert und hatte sich dann in den kühlen blauen Schatten unter einer Hecke im eigenen Garten verkrochen. Keine Stunde später hatte ihr Vater sie dort gefunden. Sie dachte, er wäre böse auf sie, doch stattdessen kroch er zu ihr unter die Hecke, setzte sich neben sie, und Trixie vergaß völlig, was sie eigentlich vorgehabt hatte.
    Â»Als ich zwölf war«, sagte ihr Vater, »hab ich ein Boot geklaut und wollte damit nach Quinhagak. Es gibt in der Tundra kaum Straßen – man bewegt sich per Boot oder per Flugzeug von einem Ort zum anderen. Es war Oktober, schon richtig kalt, und die Fischsaison war zu Ende. Irgendwann gab der Motor des Bootes den Geist auf, und ich trieb in die Beringsee ab. Ich hatte nichts zu essen, nur ein paar Streichhölzer und einen Reservekanister Treibstoff – da sah ich auf einmal Land. Es war Nunivak Island. Wenn ich da nicht hinkam, wäre die nächste Haltestelle Russland.«
    Trixie zog eine Augenbraue hoch. »Ich glaub dir kein Wort.«
    Â»Das ist die Wahrheit, Ehrenwort. Ich hab gepaddelt wie verrückt. Und als ich schon dachte, ich würde es ans Ufer schaffen, sah ich die Brandungswellen. Mir war klar, dass das Boot zu Bruch gehen würde, also hab ich mir den Benzinkanister mit Klebeband an den Körper geheftet, damit ich nicht unterging, wenn das Boot zerschmettert würde.«
    Das hörte sich ganz nach einem von den verrückten Abenteuern an, die sich Trixies Vater für seine Comichelden ausdachte – sie hatte Dutzende davon gelesen. Und sie war natürlich immer davon ausgegangen, dass diese Geschichten nur seiner Phantasie entsprangen. Schließlich passten solche waghalsigen Heldentaten so gar nicht zu dem Vater, mit dem sie aufgewachsen war. Aber was, wenn er selbst der Superheld war? Was, wenn die Welt, die ihr Vater Tag für Tag erschuf – voller unglaublicher Kraftakte und Kühnheit und Überlebenskampf –, nicht erfunden war, sondern die Welt, in der er tatsächlich gelebt hatte?
    Sie versuchte sich vorzustellen, wie ihr Vater hilflos in der rauesten und kältesten See auf Erden trieb und verzweifelt ums Überleben kämpfte. Sie versuchte sich diesen Jungen vorzustellen, und dann sah sie ihn als Erwachsenen, vor wenigen Tagen, wie er auf Jason einschlug. »Wie ging’s weiter?«, fragte Trixie.
    Â»Ein Mann von der Fischerei- und Jagdbehörde sah das Feuer, das ich gemacht hatte, nachdem ich an Land gespült worden war, und rettete mich«, sagte ihr Vater. »Von da an bin ich jedes Jahr ein- oder zweimal abgehauen, aber nie weit gekommen. Sonst

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