Schuldlos ohne Schuld
und gleichzeitig in einer fast beschwipsten Weise durcheinander. Er erinnert sich, dass er sich ein Herz fasste, Irene über das Haar strich und sie zu küssen versuchte. Vielleicht legte er auch eine Hand über ihre Brust. Mehr kann es nicht gewesen sein.
Irene versuchte sich loszureißen, aber nicht sofort und nicht besonders eifrig; er dachte, es wäre gespielt und weigerte sich, sie loszulassen. Vielleicht packte er zu kräftig zu. Plötzlich begann sie zu treten und zu kratzen, und einen kurzen Augenblick dachte er, es wäre schön, ihr seine Kraft zu zeigen. Dann ließ er sie frei und sie rannte kreischend weg. Jede Arbeit im Büro brach ab, und die anderen Frauen sammelten sich in einem weiten Kreis um Irene. Sie ruderten mit den Armen und schrieen wie hungrige Geier, die sich um ein Aas sammeln. Dann änderten sie ihr Äußeres und verwandelten sich in niedliche, tröstende Krankenschwestern mit einer rührenden Träne im Augenwinkel. Alle wollten Irenes Hand halten und dabei ihre neunmalklugen Ansichten äußern.
Sie behaupteten, dass Irene einer versuchten Vergewaltigung ausgesetzt gewesen sei. Die Behauptung war einfach lächerlich.
Einige Stunden später erhielt Martin im Postraum Besuch von Peterson, einem der untergeordneten Büroleiter. Martin hatte immer vermutet, dass jener schwul war, und hatte Schwierigkeiten, mit ihm zu reden. Peterson war in Begleitung von Augustson, der etwas mit der Gewerkschaft zu tun hatte. Sie sagten, sie seien zu einer Art Untersuchungskommission ernannt worden, die die Anschuldigungen gegenüber Martin überprüfen und herausbekommen solle, was geschehen sei. Sie hätten bereits mit Irene gesprochen. Zwischen Weinkrämpfen habe sie mehrfach wiederholt, dass Martin sich an ihr vergriffen habe.
Martin konnte nur schwer eine Erklärung abgeben. Seiner Meinung nach war überhaupt nichts passiert. Er gab zu, dass er versucht hatte, sie zu küssen. Es war wohl nicht das erste mal, dass hier im Büro ein Mann eine Frau geküsst hatte. Außerdem hatte er Grund zu der Annahme, dass sie nichts dagegen hatte. Im Gegenteil. Irene war unter einem Vorwand in das Postzimmer gekommen. Sie hatte sich auf einem der Tische gemütlich niedergelassen, den Rock ein schönes Stück über die Knie hochgezogen und die Beine nicht gekreuzt. Beide hatten sie gelacht und gescherzt, oder war es richtiger zu sagen, dass sie ihn aufgereizt hatte? Übermut und Spaß hatten in ihrem Blick gelegen, aber Martin glaubte im Nachhinein, eine Spur wachsamer Bereitschaft gesehen zu haben. Als sie vom Tisch herab glitt, war der Rock noch ein Stück nach oben gewandert. Da hatte er sie gepackt. Danach war alles sehr schnell gegangen.
Augustson konnte nur mit Mühe ernst bleiben, und es lag ein Funke von amüsiertem Verständnis in seinen Augen, nachdem Martin seinen Bericht beendet hatte. Peterson dagegen zeigt einen Zug verachtungsvollen Ekels auf seinem Gesicht, seine Lippen waren aber feucht geworden und seine Wangen erhitzt. Außerdem konnte er kaum stillstehen.
»So war das also«, äußerte sich Peterson mit seiner piepsenden Kastratenstimme.
Mehr hatte er nicht zu sagen. Er warf Martin einen verächtlichen Blick zu, sah ihn herablassend an und entfernte sich aus dem Postzimmer, kerzengrade aufgerichtet, wie der verantwortungsvolle Personalchef, der er war.
»Mach das nicht noch mal«, sagte Augustson lächelnd und legte freundlich die Hand auf Martins Schulter.
»Wenigstens nicht in diesem Büro.«
Dann ließen sie Martin in Ruhe.
Alles, was danach geschah, geschah im Verborgenen. Der Arzt, den Martin aufsuchen musste, zeigte kein größeres Interesse an dem Fall und äußerte auch nicht seine Ansicht über Martins psychische Gesundheit. Das Urteil war vorweg gesprochen, und allen lag am Herzen, die Angelegenheit möglichst schnell loszuwerden. Martin selbst hatte das Gefühl, schon jetzt langsam unsichtbar zu werden. Er hatte sich von einem Menschen in eine Personalakte verwandelt, die mit einer Anzahl maßgeblicher Unterschriften versehen werden musste, bevor man sie für immer ablegen konnte. Niemand kümmerte sich um Martin Larsson – wer kann das auch verlangen? Das hatte nie jemand getan, und er war auch nicht der Mensch, den man aufsuchte, weder um Rat zu bekommen noch um seine Freundschaft zu gewinnen.
Die Elstern sind zurück. Eine von ihnen sitzt auf dem Ast über dem Nest. Es ist nicht leicht, seinem Schicksal zu entkommen. Wie es auch sein mag. Wenn man wie Martin seine
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