Schuldlos ohne Schuld
gesellschaftliche Stellung für immer verloren hat und nicht einmal so wenig gleichberechtigt ist wie früher, muss man kalten Sinnes die Realität sehen und sie anerkennen, auch wenn sie nur ein Schattendasein ist.
Um seine Selbstachtung nicht zu verlieren, muss Martin aufhören, sich zu schämen. Er weiß, dass er in den Augen der anderen nichts anderes ist als ein Ausgestoßener und dass er für immer ein Ausgestoßener bleiben wird. Martin beginnt auch langsam zu begreifen, dass das einzige, was ihm den Respekt vor sich selber wiedergeben kann, die Rache ist.
An wem soll er sich rächen? An Irene? Dem Affen? Das verschafft keine Befriedigung. Sie war nur der auslösende Faktor, das letzte erniedrigende Glied in einer langen, quälenden Kette der Erniedrigung. Trotzdem hatte er damals, an jenem Winterabend, als er mit den Burschen auf dem Weg zum Schrottlager zusammengestoßen war, geglaubt, endlich respektiert und mit den anderen auf die gleiche Stufen gestellt zu werden. Das Erlebnis auf der Straße hatte ihm sein lange vermisstes Selbstvertrauen wiedergegeben. Natürlich konnte er nicht von den Vorkommnissen erzählen – niemand durfte wissen oder auch nur vermuten, dass er einen Revolver besaß –, aber das war von geringer Bedeutung. Er muss zugeben, dass er einen gewissen Stolz verspürt hat. Vielleicht war es auch Eitelkeit. Am Arbeitsplatz war er mit großem Elan aufgetreten, als hätte er ein wichtiges Geheimnis. Das stimmte ja auch. Ein Geheimnis von so großer Bedeutung, dass er das Recht hatte, von allen Respekt zu verlangen.
Als er an jenem Abend nach Hause kam, legte er den Revolver in den Schuhkarton zurück. Er spürte nicht mehr das Bedürfnis, ihn bei sich zu tragen. Jedenfalls nicht im Augenblick. Allein das Wissen, dass er im Besenschrank verborgen lag, genügte, um mit einem neuen Gefühl der Sicherheit und Zuversicht zur Arbeit gehen zu können.
Seit jenem Tag änderte Martin sein Verhalten. Er suchte immer öfter den Kontakt zu seinen Arbeitskollegen. Er besuchte sie in ihren Zimmern, wenn er etwas Interessantes zu erzählen hatte. Es waren selten Fragen, die sich auf die Arbeit bezogen, sondern eher solche, für die sich die Zeitungen interessierten, besonders Probleme politischer Art. Martin war sich der Ungerechtigkeit in der Gesellschaft bewusst geworden, und er wollte beweisen, dass er ein ebenso wichtiges Rad im Getriebe war wie irgendein anderer und dass er deshalb ein Mensch war, dessen Ansichten man ernst nehmen musste.
Alle waren überrascht.
Nach einer Zeit bat einer der Chefs ihn, sich etwas ruhiger zu verhalten. Martin fasste die Aufforderung nicht als eine Drohung auf, folgte der Ermahnung aber. Die Arbeit musste natürlich zuerst kommen. Das war selbstverständlich.
Dann passierte das mit Irene. Wenn sie seine Gefühle erwidert hätte, wenn er ihr weiter hätte den Hof machen können, sie vielleicht ins Restaurant oder ins Kino hätte einladen dürfen, wäre alles anders gelaufen. Mit ihrer Hilfe hätte er den letzten, entscheidenden Schritt in die Gemeinschaft tun können. Er dachte sogar daran zu heiraten. Vielleicht Irene. Der Gedanke an sie lag am nächsten, aber im Prinzip hätte er sich auch eine Heirat mit jemand anderem vorstellen können. Er wäre eine guter Ehemann und ein tüchtiger Vater geworden. Davon ist er vollkommen überzeugt. Stattdessen stieß sie ihn in den Abgrund, und dort sollte er bleiben.
Beide Elstern sitzen jetzt auf der Kante des Nestes. Martin ist aber nicht mehr an ihnen interessiert. Er geht in die Diele und holt den Schuhkarton hervor. Dann setzt er sich auf einen Stuhl, den Revolver auf dem Knie und die Schachtel mit den Kugeln auf dem Tisch. Zum ersten Mal lädt er die Waffe. Er macht dies immer wieder, bis der einfache Vorgang fast von allein geschieht. Als einziges bleibt jetzt nur noch die Schießübung. Die muss bis morgen warten.
Zum ersten Mal seit über einem Monat geht Martin in die Kneipe. Er hat den Revolver nicht dabei, hat ihn aber auch nicht weggepackt wie früher.
Er liegt im Wohnzimmer auf dem Tisch neben der Zuckerdose und ist nun geladen.
In der Kneipe ist keine Schusswaffe nötig. Dort gibt es keine Feinde. Dort muss er sich an niemandem rächen.
5
Boooaanng … ng … g …
Martin steht breitbeinig, aber dennoch mit weichen Knien mitten im Wald, mindestens hundert Meter von dem Pfad entfernt, auf dem er kurz zuvor gekommen ist. In der Hand hält er den Revolver. Sein Körper zuckt, als hätte er Krämpfe;
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