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Schumacher, Jens - Deep

Schumacher, Jens - Deep

Titel: Schumacher, Jens - Deep Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jens Schumacher
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inmitten wirbelnder Schwebeteilchen und nachtdunklem Blau.
    Unmittelbar vor dem Bullauge reaktivierte Henry seine Lampen. Grell flammten die Hochleistungsstrahler auf, badeten die Turmflanke in taghelles Licht.
    Dennoch begriff Henry zunächst nicht, was er sah.
    Das Objekt auf der Innenseite des Glases hatte einen Durchmesser von etwa dreißig Zentimetern. Es war von gräulicher Farbe, ähnlich der teigig-verquollenen Haut einer Wasserleiche. Der Rand war mit einer Reihe spitzer, leicht gebogener Zacken besetzt, die an Klauen oder Zähne erinnerten. Was aus ein paar Schritten Entfernung wie Gesichtszüge gewirkt hatte, waren willkürliche Rillen und Vertiefungen, die sich träge verlagerten, Muskelbewegungen unter weicher, schleimiger Haut.
    Und plötzlich wusste Henry, was er vor sich hatte: Dieses Ding war ein Saugnapf, und zwar der größte, den er je gesehen hatte! Bis auf die Zähne am Rand glich das Gebilde den Auswüchsen an den Tentakeln eines Kraken, wie Henry sie schon öfter beim Tauchen beobachtet hatte – mit dem Unterschied, dass dieser Sauger viele Dutzend Mal größer war.
    In diesem Moment teilte sich der ekelhafte Wust weißen Fleisches entlang einer senkrecht verlaufenden Hautfalte und legte ein kopfgroßes, schwarz glänzendes Auge frei.
    Ein gellender Schrei füllte Henrys Ohren. Er brauchte einen Moment, bis er begriff, dass er selbst ihn ausgestoßen hatte.
    Ohne zu blinzeln oder sich von dem grellen Licht der Scheinwerfer irritieren zu lassen, starrte das Auge ihn an. Henry erwiderte den Blick – und spürte, wie seine Beine unter ihm nachzugeben drohten. Eine unermesslich alte, durch und durch boshafte Intelligenz sprang ihm aus dem Auge förmlich ins Gesicht.
    Schlagartig fühlte er sich durchschaut, winzig klein und unwichtig. Er spürte, wie das Wesen auf der anderen Seite des Glases in ihm las wie in einem aufgeschlagenen Buch. Eindrücke von unbeschreiblicher Fremdartigkeit schossen durch Henrys Kopf, sein Verstand wurde davongesogen in eine Welt, in der alles anders war – so anders, dass die menschliche Sprache keine Worte kannte, es zu beschreiben. Plötzlich erfüllte ihn ein unwiderstehliches Verlangen, näher bei diesem anbetungswürdigen Wesen zu sein, einem Geschöpf, rätselhafter und wunderbarer als alles, was sein erbärmlicher Heimatplanet je hervorgebracht hatte. Er verspürte den Drang, das U-Boot zu öffnen, wollte eins werden mit dem gottgleichen Wesen im Innern …
    »Stocker? Wo steckst du, zum Teufel?«
    Ottenthals barsches, stark verzerrtes Organ riss Henry abrupt in die Realität zurück. Er begriff, dass er nur Sekunden davon entfernt gewesen war, dem hypnotischen Blick der Kreatur zu erliegen. Keuchend wich er zurück.
    Als hätte das Geschöpf verstanden, dass es ihm nicht gelungen war, Henry in seinen Bann zu ziehen, schloss sich das schwarze Auge wieder. Mit einem Ruck löste sich der unförmige Saugnapf vom Glas und verschwand. Hinter dem Bullauge herrschte nur noch undurchdringliche Schwärze.
    »Stocker, verflucht! Melde dich, oder ich stecke dem Chef, dass du da unten ein Nickerchen hältst. Komm sofort rauf und hilf mir, den Dreck von der Luke zu entfernen!«
    Henry stieß einen unartikulierten Laut aus. Sein Atem ging keuchend, seine Hände zitterten. Was er während des kurzen Blickkontakts mit dem Auge gesehen, was er gefühlt und gedacht hatte, verstörte ihn mehr als alles, was er zuvor erlebt hatte. Für Sekunden hatte er sich nichts Großartigeres vorstellen können, als sein Leben für die Kreatur von den Sternen hinzugeben! Schaudernd ahnte er, was sein Vater gemeint haben musste, als er von den unheilvollen Kräften sprach, mit denen sich diese Wesen vor Urzeiten die Erde untenan gemacht hatten. Und zum ersten Mal vermochte er sich eine Vorstellung davon zu machen, was geschehen würde, sollte dieses Monster sein Gefängnis verlassen und an die Oberfläche gelangen.
    »Ich komme wieder rauf«, stieß Henry hervor. Er ahnte, dass Ottenthal ihn unwissentlich durch seinen Funkspruch gerettet hatte, und kurz bedauerte er, es ihm nicht danken zu können. Doch als er zur Leiter zurückkehrte und den seitlichen Handlauf mit den Manipulatoren packte, war er entschlossener denn je. Das unaussprechliche Ding durfte nicht aus dem Innern des U-Boots freikommen!
    Er würde Ottenthal aufhalten, und wenn es das Letzte war, was er in seinem Leben tat.

35
     
    UNTERWASSERHABITAT NEUSCHWABENLAND,
    27. SEPTEMBER 2013, 23:40 UHR
     
    Krolls grinsendes Gesicht

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