Schumacher, Jens - Frozen - Tod im Eis
und in der Mitte konnte man einen langen Tisch aus dem Boden hochklappen, um zu essen, Karten zu studieren oder Ähnliches. Im hinteren Teil waren ein paar Gepäckstücke sowie die empfindlicheren der Apparate verzurrt, die Professor Albrecht mitgebracht hatte. Henry empfand es als tröstlich, dass sie an Bord waren. Es zeigte, dass der Professor nach wie vor daran glaubte, Donald Wilkins irgendwo in der Nähe der Ausgrabungsstätte anzutreffen.
Nachdem sie eine Weile über den unebenen, verschneiten Grund hinweggeholpert waren, wurde es im Innern des SnoCat angenehm warm. Henry legte Handschuhe und Parka ab, und Eileen, die sich auf dem Sitz gegenüber niedergelassen hatte, tat es ihm gleich. Er hoffte, dass es so bleiben würde.
Die Scheibe neben seinem Kopf blieb dank eingelassener Heizdrähte frei von Eis. Henry machte es sich bequem und starrte schweigend in die unwirtliche Landschaft hinaus.
Eileen beobachtete ihn eine Weile. »Du hast ein gutes Verhältnis zu deinem Dad, stimmt’s?«, fragte sie schließlich.
Henry erwiderte ihren Blick und nickte.
Sie lächelte. »Das ist schön. Und bemerkenswert! Ich meine, immerhin ist er seit deiner Kindheit eigentlich rund um die Uhr unterwegs. Du wohnst im Internat, siehst ihn bestenfalls in den Ferien. Er führt sein Leben, du deines …«
»Ich weiß, was Sie meinen.« Henry sah wieder aus dem Fenster und dachte über ihre Worte nach. Er hatte sich selbst schon oft gefragt, wieso er mit seinem Vater so viel besser auskam als viele seiner Schulkameraden. Die meisten Jungs in seinem Alter sprachen respektlos von ihren Vätern oder sahen in ihnen maßgeblich eine Quelle für Taschengeld und Geschenke, für die sie keine Gegenleistung erbringen mussten.
»Ich nehme an, der Verlust deiner Mutter hat euch enger zusammengeschweißt?«, vermutete Eileen vorsichtig.
Henry schüttelte den Kopf. »Ich glaube, im Endeffekt habe ich mehr Zeit gemeinsam mit meinem Vater verbracht als die meisten Jungen in meinem Alter«, sagte er. Als Eileen ihn fragend ansah, fuhr er fort: »Ich meine, intensiv verbracht. Viele meiner Freunde leben zwar mit ihrem Dad im selben Haus, aber sie sehen ihn höchstens abends, wenn er müde von der Arbeit heimkommt. Am Wochenende sind sie dann selbst mit Freunden unterwegs. Bleiben zwei oder drei Wochen gemeinsamer Urlaub im Jahr, um etwas zusammen zu unternehmen.«
Eileen hörte aufmerksam zu. Als er ins Stocken geriet, lächelte sie ihn aufmunternd an.
»Natürlich habe ich Dad phasenweise nicht gesehen, wenn er gerade irgendwo auf der Welt unterwegs war. Dafür waren wir, wenn ich ihn auf einer seiner Expeditionen begleiten durfte, vier, fünf oder mehr Wochen zusammen – rund um die Uhr. Tagelang Seite an Seite durch den Dschungel wandern, in Hütten aus Ästen und Blättern schlafen … Einmal wurden wir sogar gemeinsam in einer Höhle verschüttet! Wir saßen zwei Tage fest, bis uns einer von Dads Mitarbeitern fand und ausgrub.« Henry dachte noch einmal kurz nach, dann verschränkte er die Arme und sagte mit Bestimmtheit: »Ja, ich denke, ich kenne meinen Vater besser, als die meisten Jugendlichen das von sich behaupten können. Und ich kann ihn verdammt gut leiden. Für einen Erwachsenen ist er ein klasse Typ!«
»Das unterschreibe ich«, bestätigte Eileen lächelnd. »Es gibt wenige Kollegen an der Uni, mit denen ich so gern zu tun habe wie mit deinem Dad.«
Eine Weile blickten sie gemeinsam in die gleichförmige weiße Landschaft hinaus, dann wandte sich Eileen erneut an Henry.
»Sag mal, stimmt es eigentlich, was Dr. Lamont mir über Donald erzählt hat? Dass er so gut wie keine Schmerzen spürt? Wenn ich mich nicht täusche, hat er auch mal so etwas erwähnt …«
Jetzt war es an Henry zu grinsen. »Das stimmt. Ihm fehlt irgendein Gen, das für die Weiterleitung bestimmter Reize ans Gehirn zuständig ist. Oder so ähnlich. Ein angeborener Defekt, der gar nicht so selten vorkommt, wie man denkt. Er bewirkt, dass Dads Schmerzempfinden extrem reduziert ist. Er nimmt den Schmerz eigentlich erst dann wahr, wenn er schon so stark ist, dass andere längst das Bewusstsein verloren hätten.«
Eileens Augen weiteten sich. »Das hört sich verdammt praktisch an, wenn du mich fragst. Nie mehr Angst vorm Zahnarzt, kein Fluchen mehr, wenn du dir mal mit dem Hammer auf den Finger schlägst oder beim Rollerbladen den Asphalt küsst …«
Henry schüttelte den Kopf. »Ich würde nicht mit ihm tauschen wollen. Und ich bin froh, dass er mir
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