Schussfahrt
Gerhard und Volker Reiber ins Innere. Die Eingangstür war so
in den Berg gebohrt, dass sie in einen Gang führte, der das Anwesen
unterhöhlte, dann in eine gewaltige, mit Fackeln beleuchtete Marmortreppe
überging und die Besucher erst wieder oben in der riesigen Halle entließ. Dort
grüßte eine Ritterrüstung zu einer Le Corbusier-Liege hinüber, vor der auf
einem Muranoglastisch eine Ming-Vase stand.
Und dann sahen sie
Denise Rümmele hereinschweben. Blond gefärbt, das Haar toupiert und von einem
glitzernden Band gehalten. Jeder womöglich menschliche Gesichtszug war
übertüncht, das Bleu der schweren Augenlider passte zum Kostümchen in
ebensolchem Himmelblau. Ihre Figur war zweifellos sehr ansprechend, wenn auch
das Alter der Dame dank der Bemalung völlig im Nebulösen lag. Sie konnte
fünfunddreißig oder fünfundfünfzig sein, dachte Gerhard.
»Sie wünschen?«,
fragte sie Volker Reiber.
»Gnädige Frau.«
Reiber deutete einen Handkuss an und hatte erst einmal gewonnen. Mehr sagte er
allerdings nicht.
Frau Rümmele blickte
von einem zum anderen. »Sodele ja, sodele, dann setzet Sie sich doch.«
Reiber sah Gerhard
zurechtweisend an. Natürlich, die Drecksarbeit blieb an ihm hängen. »Frau
Rümmele, wir müssen Ihnen leider mitteilen, dass Ihr Gatte tot ist.
Wahrscheinlich wurde er ermordet.« Er sprach sehr akzentuiert und wunderte sich
über seine Wortwahl. Gatte!
Der Hausangestellten
entfuhr ein »Heiligs Blechle«, und Denise Rümmele stieß spitze Schreie aus, was
zwei Yorkshire-Terrier auf den Plan rief, die mit hochfrequentem Quieken in
Frauchens Lamento einfielen. Die Angestellte stürzte sich auf die Tiere, und es
gab eine Art Handgemenge. Als sich das Chaos gelegt hatte, war Frau Rümmele
gefasst, und es war Gerhard unmöglich, jetzt noch festzustellen, was sie
angesichts des Ablebens ihres Mannes empfinden mochte.
Denise Rümmele wies
Gerhard und Reiber einen Platz auf der Designerliege zu und drapierte sich
selbst auf einen Biedermeierhocker. Sie massierte sich theatralisch die
Schläfen. »Was sagen Sie? Ermordet?«
Gerhard gab ihr
einen knappen Abriss der Vorkommnisse, währenddessen massierte sie weiter ihre
Schläfen.
»Gnädige Frau«, hob
Reiber nun an, »können Sie sich vorstellen, was Ihr Mann gestern Abend im
Gunzesrieder Tal gemacht hat?«
Kopfschütteln. So
ging das Frage-und-Antwort-Spiel eine Weile. Ihr Mann sei am Sonntag in der
Früh mit seinem Wagen weggefahren; beim Event-Castle-Meeting habe man sich
getroffen und danach wieder getrennt. Nein, zum Fundort könne sie nichts sagen
und auch nicht zum Verlust der Schuhe.
Schließlich fragte
Volker Reiber: »Hatte Ihr Gatte Feinde?«
Denise Rümmele
schoss vom Hocker hoch. »Feinde? Hunderte! Hanoi – das sind doch Barbaren
hier!« Sie begleitete das Ganze mit einer weit ausholenden Handbewegung. »Ich
lebe hier in einem Exil, einer Verbannung gewissermaßen. Nur meinem Mann
zuliebe, der sich ja unbedingt hier ansiedeln musste. Als hätte es nicht
gereicht, eine Bürofiliale hier aufzubauen, oder?«
Gerhard hielt den
Blick konsequent auf den von irisierenden Mustern durchzogenen Fliesenboden
gerichtet. Wenn diese Frau jenseits des Inhalts ihrer Rede nicht auch noch
diesen Dialekt sprechen würde! Sie bemühte sich zwar ums Hochdeutsche, konnte
aber ihr breites Stuttgarterisch kaum verleugnen. Ihm wurde übel – zumal er schon
wieder Hunger hatte.
Frau Rümmele war
nicht mehr zu bremsen. »Verbannung, sage ich. Woisch, Sie kriegen hier nicht
mal Weckle!«
Gerhards Kopf zuckte
hoch. Zufällig wohnten seine Eltern in Eckarts, und da es dort keinen
Lebensmittelladen oder Bäcker gab, kauften sie in Oberdorf bei der Bäckerei
Speiser ein. Brot gab es hier zweifellos, bloß klangen die Anekdoten rund ums
Brot, die seine Eltern erzählten, ganz anders!
»Morgens um sieben,
da ist die Allgäuer Welt nämlich nicht etwa in Ordnung«, pflegte Gerhards Vater
immer zu sagen. »Oder besser: In der Saison ist gar nichts in Ordnung. Da fällt
da nämlich einer aus dem Schwabensilo ein« – eine treffliche Beschreibung für
einen Zweitwohnungs-Appartement-Bau – »und kauft gleich fünfzig Semmeln. Für all
die anderen Heuschrecken-Zweitwohnungs-Freunde aus dem Hanoi- und Adele-Land.
Kommen wir Einheimischen gegen neun und wollen Semmeln kaufen, sind da nur noch
leer gefressene Regale.« »Musst halt auch früher aufstehen«, spottete Gerhard
dann immer.
Frau Rümmele war
schon weiter in ihrer Tirade. »Was glaubet Sie!
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