Schussfahrt
ganz
ehrlich, allmählich kotzt mich das alles so an.«
»Gerhard! Jo! Morgen
ist Weltcupfinale, das letzte Rennen. Ich muss das noch fahren. Die Strecke
liegt mir, ich war Dritter im Training. Bitte! Ich unterschreib dir ein
Protokoll der ganzen Geschichte und komme morgen sofort nach dem Rennen nach
Hause. Ich erzähle alles der Mordkommission, aber glaubt mir: Ich war’s nicht.«
Wieso ließen sie
sich darauf ein? Gerhard, weil Martl wirklich ein Protokoll unterschrieb, und
Jo, weil sie ihm immer verziehen hatte.
Sie waren
Freitagabend um zweiundzwanzig Uhr wieder im Allgäu. Jo stieg aus Gerhards Auto
und schleppte sich die Stufen ihres Häuschens empor, drückte die Tür auf und
trat in den Gang. Moebius kam angerannt und hielt dann inne. Er legte den Kopf
schief und sah sie nur an. Jo schaute zurück in diese Bernsteinaugen, und dann
rutschte sie ganz langsam am Türrahmen herunter und blieb mit gespreizten
Beinen sitzen. Moebius kam näher und bildete einen Katzenkringel zwischen ihren
Beinen.
»Ach,
Moepelmännchen, wenn nur alle Männer so viel Verständnis hätten.« Sie kraulte
ihn mechanisch hinterm Ohr. Mümmi kam dazu, betrachtete die Szene und ließ sich
so neben Jos Oberschenkel nieder, dass sie sich mit der Wange anlehnen konnte.
Sie seufzte und schloss die Augen.
Jo hatte keine
Ahnung, wie lange sie so dagesessen hatten. Schließlich stand sie auf, hob
vorsichtig die beiden Stubentiger auf und setzte sie auf die Couch. Beide
kringelten sich simultan zusammen.
Jo war erschöpft und
übernächtigt und so aufgewühlt, dass an Schlaf nicht zu denken war. Also irrte
sie durch die Wohnung, las alte Briefe, hörte depressive Musik, erkannte
Bruchstücke ihrer verlorengegangenen Seele in den Liedern wieder. Melancholie
kroch aus einem alten Liebesbrief. Sie packte eine Flasche Sekt in den
Kühlschrank.
Dann starrte sie an
die Decke, schoss plötzlich hoch, um die Platte zu wechseln, und versank
wieder. Sie machte im Geiste Listen der Leute, die sie anrufen könnte. Sie
hatte schon Andreas Nummer gewählt, als sie wieder auflegte. Sie brauchte
jemanden zum Reden, und andererseits war diese Wehmut überhaupt nicht in Worte
zu fassen. Sie hätte den Hörer abgenommen und doch nur geschwiegen.
Sie zog einen viel
zu warmen Pulli an – Martls, den er mal vergessen hatte. Sie setzte einen Hut
auf – fast so, als wollte sie sich zumindest ihrer Anwesenheit versichern, so,
als wollte sie sich einhüllen und schützen und die Entblößung aufheben.
So ging das Stunden.
Am Samstag um zehn Uhr vormittags schaltete sie den Fernseher an. Eine seltsame
Erregung umfing sie wie jedes Mal, wenn sie ihn fahren sah. Er startete mit der
Nummer zwölf. Er hatte Vorsprung nach der ersten Zwischenzeit, die langen
Gleitpassagen oben lagen ihm. Der Teil mit den engen Super-G-Kurven war weniger
seine Domäne. Da ein Rutscher, dort zu lange auf dem Innenski geblieben, hier
ein Sprung, bei dem er etwas aufmachen musste. Er kam bei einem Richtungstor
nicht hoch genug zum Schwungansatz und erwischte damit auch das nächste Tor
schlechter. Lauter kleine Patzer, die sich aber summierten. Die letzte Passage,
wo der Berg extrem hing und viele kurze Schläge abzufedern waren, meisterte er
aber wieder sehr locker. Er holte Zeit auf und schoss durchs Ziel – momentan
als Dritter.
Er wurde schließlich
Fünfter, ein guter Saisonabschluss. Die Fernsehübertragung war beendet, es war
halb zwölf. Er würde wenig später zurück nach Kempten fahren können – wenn er
Wort hielt.
Es wurde ein Uhr,
und Jo fühlte sich, als würde etwas ihr Herz zermahlen. Sie wählte seine
Handynummer; das übliche »not available«. Vielleicht würde er sie anrufen. Aber
nichts passierte. Jo rügte sich selbst: Man kann das Handy auch niederstarren –
es läutet trotzdem nicht. Man kann auch so lange durch TV -Kanäle zappen, bis die Finger erlahmen – Linderung bringt
das trotzdem nicht. Man kann die Tür des Kühlschranks tausendmal öffnen,
schließen, doch nichts trinken – die Zeit vergeht trotzdem nicht.
Herr Moebius hatte
beim zehnten Kühlschrankklappern aufgegeben zu hoffen, dass die Dose mit
Katzenfutter dem Schrank entsteigen würde, und sah sie nur noch aus halb
geschlossenen Augen an.
»Ja, schau du nur.
Habe ich irgendwo oder irgendwann vielleicht behauptet, ich würde aus Fehlern
lernen? Nö, hab ich nicht.«
Moebius gähnte.
Jos Festnetz-Telefon
läutete. Martl! Dabei wusste Jo genau, dass Martl nur auf ihrem Handy anrief.
Es
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