Schusslinie
wollte Bruhn
wissen, worauf sich Linkohr angesprochen fühlte. »Zwischen 40 und 50, sagen die
Ulmer.« Er meinte damit die zuständige Gerichtsmedizin im nahen Ulm.
Bruhn blickte nervös auf seine Armbanduhr,
als habe er Angst, die wertvolle Zeit laufe ihm davon. »Wie gehn wir vor?«, wollte
er wissen.
»Wir müssen so schnell wie möglich rauskriegen,
wer der Tote ist«, antwortete Häberle, als ob sich der Chef dies nicht selbst hätte
denken können. »Allerdings haben wir da ein echtes Problem. Wir wissen alle, wie
fürchterlich der Kopf aussieht. Daraus wird sich beim besten Willen keine Rekonstruktion
des Gesichts mehr machen lassen.«
»Aber eine Beschreibung muss raus«, forderte
Bruhn. Er vermied es, das Wort ›Medien‹ in den Mund zu nehmen. In seinen Augen wurde
alles aufgebauscht, übertrieben und die Journalisten mischten sich in die Ermittlungen
ein. Von dieser Meinung rückte er nur dann ab, wenn in seltenen Fällen Fernsehkameras
auf ihn selbst gerichtet wurden und er ein kurzes, knappes und wohl formuliertes
Statement zu einem überörtlich bedeutsamen Verbrechen abgeben durfte. Dann ließ
er sogar den Pressesprecher nicht zu Wort kommen, auf den er normalerweise alles
abzuwälzen pflegte.
»Wir werden zunächst an die Rundfunkstationen
gehen«, erklärte Häberle ruhig, »und dann dafür sorgen, dass die Zeitungen morgen
drüber berichten. Irgendwo wird dieser Mensch ja vermisst werden.«
»Halten Sie mir aber den Sander vom Leib«,
knurrte Bruhn. Dieser Lokaljournalist, der seit Langem im ganzen Kreis Göppingen
sein Unwesen trieb, war ihm zuwider, vor allem aber suspekt, weil dieser Zeitungsmensch
Gott und die Welt kannte und man sich nie sicher sein konnte, was dessen Beziehungen
auszulösen vermochten.
Häberle grinste. Er hatte solche Probleme nie
gehabt. Weder mit Sander, noch mit irgendeinem anderen Journalisten. »Der Oberstaatsanwalt
wird zu einer Pressekonferenz kommen«, erklärte er, »um vier.«
Bruhn sagte nichts dazu. Er würde es Häberle
überlassen. Erst ein aufgeklärter Fall erschien ihm wichtig genug, selbst als Kripochef
vor die Kameras zu treten, falls denn welche da sein sollten. Er erhob sich, um
das Gespräch für beendet zu erklären. »Eines noch«, sagte er, während er sich bereits
der Tür zuwandte. »ich befürchte, wir haben’s hier mit Profis zu tun. Das sieht
nicht nach einer Herzschmerz-Beziehungstat aus, sondern nach der Arbeit eines Killers.«
Häberle und Linkohr waren auch aufgestanden,
als ihr Chef den Raum wortlos verließ und die Tür, wie üblich zum Zeichen größter
Autorität, kräftig ins Schloss warf. Der Kommissar musste unweigerlich an einen
der wenigen ungeklärten Morde im Landkreis Göppingen denken. Denn der Fall wies
tatsächlich seltsame Parallelen zu einem Verbrechen auf, das an einem Oktoberabend
des Jahres 1989 beim Göppinger Tennisclub verübt worden war. Bis heute konnte nicht
geklärt werden, wer damals auf dem dunklen Parkplatz einen 50-jährigen Geschäftsmann
erschossen hat. Aus allernächster Nähe. Genau wie jetzt.
»Ich befürchte, dass die Sache verdammt schwierig
wird.« Irgendwie kam ihm plötzlich die Dienstaufsichtsbeschwerde in den Sinn, die
gegen ihn lief – wegen eines anderen großen Falls, den er vor eineinhalb Jahren
auf ziemlich unkonventionelle Weise in Lugano gelöst hatte und wo letztlich doch
gewisse Zweifel bestehen geblieben waren. Aber das war eine andere Geschichte …
Martin Striebel und Rainer Kromer hatten im Hotel ›Slovan‹ vergangene
Nacht unruhig geschlafen. Nach dem Frühstück waren sie durch die breite Hauptstraße
geschlendert und nun um die Mittagszeit saßen sie vor einem Straßencafé, tranken
Pils und stellten zufrieden fest, dass sich die Damen in der Slowakei ziemlich freizügig
gaben. Aber das war den beiden Männern auch schon bei ihren vorausgegangenen Besuchen
im Sommerhalbjahr aufgefallen – und auch gestern Abend hatten die Sekretärinnen,
sofern es denn welche waren, nicht mit ihren weiblichen Reizen gegeizt.
Die Bistrotischchen dieses Straßencafés waren
gut besetzt, auf der Straße bummelten jede Menge Menschen, Tauben segelten im Tiefflug
über die Fußgängerzone. Von dem strahlend blauen Himmel brannte die Mittagssonne.
Mehrfach hatten die beiden Männer bereits die
Gespräche mit Jano und dessen amerikanischem Schwager diskutiert – lange noch in
der Nacht und dann beim Frühstück wieder. Matthias, den sie noch angerufen hatten,
war ziemlich aufgebracht
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