Schusslinie
danach sah es aus
–, dann konnte die ganze Organisation in größter Gefahr sein. Nicht auszudenken,
wenn entsprechende Dokumente den Medien zugespielt würden. Liebenstein mochte sich
das Szenario gar nicht vorstellen. Am Schluss würden zwar die Großen fein dastehen,
dafür war gesorgt und das hatte er selbst so eingefädelt, doch ausbaden mussten’s
die Kleinen – egal, wer im September an die Macht kam.
Liebenstein, der noch am Abend von Aalen nach
Göppingen gefahren war, wo er sich im Hotel ›Hohenstaufen‹ ein Zimmer genommen hatte,
wollte sich vor Ort selbst ein Bild von der Situation verschaffen. Beim Frühstück
blätterte er in der örtlichen Tageszeitung, der NWZ, die den Artikel des Geislinger
Journalisten Georg Sander über den nächtlichen Mord am Bahndamm übernommen hatte.
Verdammt, dachte sich Liebenstein, was trieb den Kerl in das Eybacher Tal. Ganz
sicher hatte er dort alte Fußballfreunde getroffen. Aber warum heimlich? Und weshalb
unter Beierleins Namen? Liebenstein war derart in die Lektüre des Zeitungsartikels
vertieft, dass er die anderen Gäste überhaupt nicht wahrnahm.
Dann fasste er einen Entschluss. Er wollte
sich bei ›Nubru‹ umsehen. Es musste einen Zusammenhang geben zwischen Lanski und
diesem verschwundenen Firmenchef. Oder, noch schlimmer, Nullenbruch war nur deshalb
abgetaucht, weil er der Mörder war. Liebenstein stockte der Atem. Allein der Gedanke
daran ließ ihn erschaudern.
Er gab am Foyer Bescheid, dass er noch mindestens
eine weitere Nacht bleiben werde, ließ sich ein Taxi rufen und verließ das Hotel.
Obwohl ziemlich zentral gelegen, vermittelte es Landhaus-Atmosphäre.
Die Fahrt quer durch die Stadt, hinaus nach
Ursenwang und von dort in den Gewerbepark ›Voralb‹, dauerte 15 Minuten. Das Wetter
war für einen ersten Juni alles andere als vorsommerlich. Die Schafskälte, so schrieben
es die Zeitungen, sei viel zu früh hereingebrochen – und eine Rückkehr der hochsommerlichen
Temperaturen, wie sie bis vergangenen Sonntag geherrscht hatten, war in den Wetterprognosen
nicht vorgesehen.
Wenigstens regnete es nicht.
›Nubru‹ war einer dieser Firmenneubauten, wie
sie in den 90er Jahren überall entstanden sind: Viel Alu, viel Glas – und eine grau-blaue
Metallfassade, die an das Wellblech früherer Zeiten erinnerte. Das Treppenhaus des
dreistöckigen Bürotrakts, von dem aus sich nach beiden Seiten zwei lang gestreckte
Produktionshallen erstreckten, war von unten bis oben gläsern. Ein riesiger, roter
Schriftzug mit dem Firmennamen ›Nubru‹ prangte auf dem Flachdach. Liebenstein steckte
dem Taxifahrer ein üppiges Trinkgeld zu, nahm seinen Aktenkoffer und ging entschlossenen
Schrittes zu der breiten Glastür, die automatisch beiseite schwenkte. Er betrat
ein helles, überaus großes Foyer, dessen marmorner Fußboden blitzblank spiegelte.
Hinter einem nierenförmigen Empfangstresen saßen zwei Damen an ihren Flachbildschirmen.
»Guten Tag«, grüßte Liebenstein, worauf sich
eine der Frauen erhob und sich ihm zuwandte.
»Grüß Gott«, lächelte sie, »was kann ich für
Sie tun?«
»Mein Name ist Ericson«, log er und strahlte
die Seriosität eines erfolgreichen Handlungsreisenden aus, »ich komme von der japanischen
Firma Takato – und hätte gern den Chef des Hauses gesprochen.« Er legte seinen Aktenkoffer
auf den Tresen, ließ den Verschluss aufschnappen und brachte wie zum Beweis seiner
Angaben eine Visitenkarte hervor, die mit den genannten Namen übereinstimmte. Für
alle Fälle hatte er sich ein halbes Dutzend unterschiedlicher Visitenkarten drucken
lassen.
»Sind Sie angemeldet?«, fragte die Dame, die
das Kärtchen in die Hand nahm und musterte, als sei es ein Ausweispapier. Sie überlegte
kurz und sagte dann mit fester Stimme: »Tut mir leid, Herr Ericson, aber Herr Nullenbruch
befindet sich auf Geschäftsreise.«
»Und wann ist mit seiner Rückkehr zu rechnen?«
Liebenstein nahm die Visitenkarte zurück und steckte sie wieder in den Koffer.
»Das ist im Moment schwer zu sagen«, erwiderte
die Frau freundlich lächelnd.
»Gibt es jemanden, der ihn während seiner Abwesenheit
vertritt?« Auch Liebenstein blieb betont höflich und zurückhaltend.
»In dringenden Fällen unsere Frau Siller. Aber
nur in dringenden Fällen.«
»Nun«, überlegte Liebenstein, »ob es dringend
ist, wage ich natürlich nicht zu entscheiden. Es geht um einen … naja, sagen wir’s ruhig, um einen möglichen
Auftrag. Ich hätte natürlich vorher anrufen
Weitere Kostenlose Bücher