Schutzlos: Thriller (German Edition)
Ich musste ihren Weg dennoch finden, weil es eine Reihe bestimmter Orte gab, an die sie gehen konnte. Ich musste unbedingt vor ihr dort ankommen. Ich hielt am Waldrand an und sah mich um, studierte das Rätsel aus Baumstämmen, Ästen und Laub. Ein großer Teil des Grünzeugs war weggeschnitten worden, um freie Sicht rund um das Haus zu garantieren, einen Sicherheitsstreifen. Aber dahinter war das Gelände in weiten Teilen undurchdringlich.
Ich bemerkte umgedrehte Äste, bewegte Blätter, leicht verrutschte Kiesel und schließlich einige gute Abdrücke von modischen Schuhen. Ich begann zu spurten.
Hundert Meter tief im Wald hörte ich auf, nach Zeichen Ausschau zu halten. Ich brauchte es nicht mehr, da ich Maree hörte, wie sie rücksichtslos durch das Buschwerk trampelte. Und ich hörte noch etwas – ein anschwellendes Brausen, das meinen Verdacht bestätigte, wohin sie unterwegs war.
Augenblicke später kam ich vom Wald auf eine Lichtung und sah die junge Frau vor mir – da ich wusste, wie man sich schnell durch das Blätterwerk bewegt, hatte ich die Entfernung verringert, aber sie war immer noch dreißig Meter vor mir.
Sie wandte den Kopf, sah mich und blieb stehen.
Als Schäfer habe ich viele Menschen verfolgt, bis sie aufhörten zu laufen. Meist lag es daran, dass ihnen kein vernünftiger Ausweg mehr blieb oder dass ihnen das Benzin oder die Puste ausging.
Gelegentlich blieben sie auch einfach deshalb stehen, weil sie ihr Ziel erreicht hatten.
Maree stand am Rand einer steilen Klippe oberhalb der Quelle des Tosens: dem Potomac. Die Frau, die schon zweimal versucht hatte, sich das Leben zu nehmen, blickte auf das Wasser, das tief unter ihr über die Stromschnellen rauschte. Es waren nur zehn bis fünfzehn Meter bis zur Wasseroberfläche, aber das Flussbett war hier voller Felsen, und die Strömung war schnell und tief.
Es schien die perfekte Szenerie zu sein, wenn man sich das Leben nehmen wollte. Langsam näherte ich mich ihr. Ich wollte sie nicht erschrecken.
Sie setzte sich und sah aus einem geröteten und hohläugigen Gesicht zu mir zurück. Und dann glitt sie über den Rand.
Mir stockte der Atem, und ich rannte los.
Aber dann tauchte ihr Kopf wieder auf, und mir wurde klar,
dass sie nur auf einen Felsvorsprung unterhalb des Rands der Klippe hinuntergerutscht war. Dort saß sie jetzt einfach auf ihrem Sims über den Felsblöcken und dem dahinschießenden Wasser.
Ich ging langsam weiter auf sie zu; am fernen, gegenüberliegenden Ufer des Flusses bemerkte ich einige Leute, Touristen, die auf dem Wanderweg dort liefen, entlang des Chesapeake and Ohio Canals, der von Georgetown bis Cumberland, Maryland, führt.
Ich kam zum Rand und sah auf das aufgewühlte, braune und graue Wasser hinunter, auf den Schaum, die nass glänzenden Felsen. Rechts von mir kauerte Maree mit überkreuzten Beinen wie eine Yogaschülerin auf dem Sims.
»Maree«, sagte ich.
Sie fummelte an ihrer Kamera herum. Ich ging näher und überzeugte mich, dass sie meine langsame, nicht bedrohliche Bewegung wahrnahm. Ich blieb stehen, als ich noch fünf Meter vom Rand der Klippe entfernt war, und setzte mich ebenfalls – teilweise, damit sie mich nicht als Gefahr ansah, und teilweise, weil ich kein ausgesprochener Freund großer Höhen bin. Sie warf einen Blick zu mir und wandte sich dann wieder ihrer Canon zu. Sie hob sie vors Gesicht und machte einige Panoramaaufnahmen, dann richtete sie sie auf die Felsen unter ihr. Schließlich drehte sie die Linse kurioserweise auf ihr Gesicht, das geschwollen und tränennass war. Hoffnungslos.
Ich hörte die Kamera selbst über das Tosen des Wassers hinweg klicken.
»Maree?«
Sie antwortete nicht, sondern fuhr fort, Aufnahmen zu machen. Dann drehte sie sich zu mir um und machte ein Bild. Ich reagierte nicht, und sie lehnte sich an den Fels.
Ich sah auf ihre gehetzten Augen. War sie im Begriff, sich das Leben zu nehmen?
»Maree. Ich möchte, dass Sie wieder ins Haus kommen.«
Endlich antwortete sie. »Es ist wunderschön hier… Ihre Tour ist das Geld wert.«
»Bitte.«
»Wie wäre das als Fotoserie?« Die Schwestern hatten auf unheimliche Weise die Rollen getauscht. Joanne war jetzt die emotionale und völlig ausgerastet. Maree war das Gegenteil, ruhig, gefühllos.
Zu ruhig.
»Was meinen Sie?«, fuhr sie fort. »Eine Bilderserie, wie jemand ins Wasser stürzt. Wie lange würde die Kamera wohl schießen? Ich kann sie auf Automatik stellen. Aber vermutlich würde die Batterie
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