Schutzpatron: Kluftingers sechster Fall
verarbeiten, was gerade passiert war. Wer das Gelände verlassen wollte, durfte dies erst, nachdem die Personalien aufgenommen worden waren.
Kluftinger betrachtete das alles mit leerem Blick, dann rieb er sich mit der Hand über die Augen, als könne er damit den Schreck von eben wegwischen. Die ersten Sekunden nach der Enthüllung waren die Menschen wie paralysiert im Ausstellungsraum herumgestanden, bis sich ein gewaltiges Stimmengewirr in der Halle erhoben hatte. Der Mann, den Kluftinger zu Boden gerissen hatte, stellte sich als der etwas sonderbar auftretende, aber völlig harmlose Herausgeber einer Fachzeitschrift für sakrale Kunst heraus.
In dem Durcheinander hatte man erst nach einer Viertelstunde bemerkt, dass nicht nur die Monstranz, sondern auch noch andere Preziosen gestohlen worden waren: Es fehlten mehrere kostbare Ringe aus einer Vitrine, die anderen waren unangetastet geblieben. Den Polizisten war schnell klar geworden, warum: Die Diebe hatten nur so viel entwendet, dass es auf den ersten Blick nicht auffiel und es auf den Bildern der Überwachungskameras, die sich routinemäßig alle dreißig Minuten einschalteten, wirkte, als sei alles in bester Ordnung.
Kluftinger und seine Kollegen waren ratlos: Wie hatte dieser Diebstahl sich nur unbemerkt abspielen können in der letzten Nacht? Die Täter mussten nach einem ungeheuer ausgeklügelten Plan vorgegangen sein und waren zugleich bestens informiert gewesen – schließlich hatten sie allem Anschein nach alle Sicherheitsvorkehrungen ausgeschaltet, die Alarmfallen und Sensoren umgangen und waren völlig unbemerkt wieder verschwunden. Allein den im Boden eingelassenen Tresor zu überlisten sei beinahe unmöglich, hatte der Versicherungsmensch erst gestern noch erklärt. Und nun? Man hatte sie alle Lügen gestraft. Schlimmer noch, man hatte sie vorgeführt. Sie tappten völlig im Dunklen, und Kluftinger hatte nicht gerade das Gefühl, dass sich das allzu bald ändern sollte. So wie es aussah, waren die Täter mit ihrer Beute längst über alle Berge.
Der Kommissar ließ den Blick schweifen und erblickte den Polizeipräsidenten, der sich gerade gestenreich mit dem Landrat und dem Kemptener Oberbürgermeister unterhielt; darum herum hatten sich die Journalisten postiert. Auch wenn er es nicht hören konnte, ahnte er, was dort gesprochen wurde: Lodenbacher würde in bunten Farben schildern, welchen Aufwand man nun betreibe, um die Monstranz einschließlich der Täter zu finden, er würde wie immer behaupten, es gebe schon Hinweise und einen ersten Verdacht. Seine »besten Männer« habe er mit »dera Sach« betraut, es bestehe kein Grund zur Sorge, auch wenn es eine große Herausforderung für ihn und seine Truppe sei.
Kluftinger stieß mit bitterer Miene die Luft aus. Gerade hatte ihm Lodenbacher in schneidendem Tonfall erklärt, er erwarte, dass der Fall umgehend geklärt werde, ansonsten würde er dafür sorgen, dass Kluftinger als Streifenpolizist in den Bayerischen Wald versetzt werde. »Do steht mei Karriere aufm Spiel, Sie … Sie Kasperl!«, hatte er geendet, dann war er in Richtung der regionalen Prominenz wieder abgerauscht. Um die Monstranz machte er sich offenbar weitaus weniger Sorgen.
In der Hand hielt Kluftinger nun eine Tüte mit der Figur, die in der Vitrine gestanden hatte. Wieder und wieder betrachtete er den kleinen Zettel, der daran befestigt war. »4,35 Millionen«, murmelte er resigniert. Was für eine seltsame Zahl. Seine Gedanken wurden unterbrochen, als sich Hefele an ihm vorbeizwängte. Den fragenden Blick seines Chefs beantwortete er mit einem »Ich muss bloß schnell biseln« und zeigte vage auf den Museumsbau.
Kluftinger nickte abwesend. Er dachte an diesen Strehl, den sie vor ein paar Tagen in Wien vernommen hatten. Hatte der sie kaltschnäuzig belogen? Oder hatte der Schutzpatron seine Pläne geändert, nachdem sie seinen Komplizen geschnappt hatten?
»Richard, haben die im Hubschrauber jetzt schon irgendwas Neues?«, fragte Kluftinger. Der Helikopter zog nun größere Kreise über der Gegend. Schließlich hatte man die Monstranz mit einem Funkchip versehen, den sie nun zu orten versuchten.
»Nein, bis jetzt haben die nix!«
»Sollen aber weitersuchen!«
»Werde es weitergeben, Chef! Aber ich glaube, dein Typ wird verlangt.« Maier zeigte nach draußen.
»Herr Kluftinger! Hier!« Langhammer stand an einem Stehtisch vor dem Metzgerwagen, zusammen mit seiner Frau, dem Altusrieder Pfarrer und Kluftingers gesamter
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