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Schwaben-Angst

Schwaben-Angst

Titel: Schwaben-Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Wanninger
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fragte sie.
    Braig überlegte nicht lange. »Das gibt Arbeit. Wir müssen uns mit der Liste eingehend befassen, egal was wir im Moment von ihr halten«, sagte er. »Zwei der hier aufgeführten Männer sind tot. Wir müssen das Blatt auf Fingerabdrücke überprüfen und versuchen festzustellen, wer die anderen Personen sind und in welchem Zusammenhang sie mit Böhler und Hemmer stehen. Natürlich kommt mir das absurd vor: Eine Liste mit gerade ermordeten Männern hinterm Sofa! Aber die Situation ist zu ernst, wir können es uns nicht leisten, das Papier beiseite zu legen, weil es uns an Hollywood erinnert. Dann diese Wohnung hier. Wir müssen herausfinden, wo diese Katja lebt und ob es den angeblichen Herbert Bauer wirklich gibt. Zwei Tote sind genug. Wir müssen alles tun, zu verhindern, dass es noch mehr werden.«

22. Kapitel
    Holger Schäffler war spät ins Bett gekommen in dieser Nacht.
    Zuerst, von acht bis zehn am Abend, das ausnahmsweise auf den Montag verlegte Seminar über Sören Kierkegaard, jenen dänischen Philosophen des 19. Jahrhunderts, der der Existenzphilosophie mit seinen eigenwilligen Analysen der Existenzweisen des Menschen viele Impulse und neue Denkansätze vermittelt hatte. Holger Schäffler lebte im dritten Semester im Tübinger Stift, jenem legendären Wohnheim und Studienzentrum der Evangelischen Landeskirche, das seit Jahrhunderten die bedeutendsten Intellektuellen Württembergs hervorgebracht hatte. Der Begründer der modernen Naturwissenschaft Johannes Kepler, der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel, die Dichter Gustav Schwab, Wilhelm Hauff, Eduard Mörike, Friedrich Hölderlin, Friedrich von Schelling, Wilhelm Waiblinger und viele andere kluge Köpfe waren hier zu Hause gewesen, hatten im Stift die entscheidenden geistigen Grundlagen für ihren Beruf und ihre Berufung erhalten. 1536 von Herzog Ulrich im Zuge der Einführung der Reformation in Württemberg gegründet, um jedem Landeskind, auch dem ärmsten, das kostenlose Studium der Theologie zu ermöglichen, entwickelte sich das Stift mehr und mehr zum liberalen Hort freien Diskutierens und Philosophierens in einer immer deutlicher von Wirtschafts- und Profitinteressen dominierten Universitätslandschaft.
    Das Leben im Stift galt auch zu Beginn des 3. Jahrtausends bei vielen jungen Leuten als außergewöhnliches Privileg, nicht im Sinn elitärer Bevorzugung, eher als einzigartige Chance, intellektuelle Impulse in einer sonst nirgendwo bekannten Vielfalt zu genießen. 120 Studentinnen und Studenten, davon 80 Theologen, wohnten in den vier, mehrere Stockwerke hohen, wuchtigen Bauten unweit des Neckar, direkt am Rand der Altstadt, jeder in einem eigenen Zimmer. Unzählige Veranstaltungen, von politischen Diskussionen über philosophische Seminare bis hin zu Konzerten und Theaterdarbietungen gehörten zu den vielfältigen Angeboten des Stifts. Holger Schäffler, der im fünften Semester Medizin studierte, nutzte die Chancen, die ihm sein derzeitiges Zuhause bot, so oft er konnte.
    Nach dem vom Studieninspektor des Stifts angebotenen Seminar über Kierkegaard pflegte der Kreis der Teilnehmer die aufgeworfenen Fragen reihum in den Privatzimmern weiter zu diskutieren. Es war spät geworden an diesem Abend, nicht nur weil die Frage nach dem Zusammenhang zwischen dem christlich argumentierenden Kierkegaard und dem atheistisch-existentialistischen Denker Camus verschiedene, kaum zu vereinbarende Antworten fand, sondern auch weil Holger Schäffler die Gegenwart seiner Zimmernachbarin bis zur letzten Minute des Beisammenseins genießen wollte. Stefanie Simmler studierte evangelische Theologie, wohnte im zweiten Semester im Stift. Rotwein, Bier und Mineralwasser hatten dazu beigetragen, Sinne und Gespräche zu beleben und die Runde immer weiter auszudehnen. Erst kurz vor eins war man auseinandergegangen, zu müde, zwischenmenschliche Kontakte zu vertiefen.
    Das Läuten des Weckers kurz nach halb sechs ließ Holger Schäffler abrupt wach werden. Solange die kurzen Nächte nicht zu zahlreich wurden, bereitete ihm frühes Aufstehen keine Probleme. Er blickte zum Fenster, sah, dass es gerade erst zu dämmern begann, sprang aus dem Bett. Er bemühte sich, keinen unnötigen Lärm zu verursachen. Er rasierte sich, wusch sich, kleidete sich an.
    Das Praktikum in der Uni-Klinik hatte Anfang August begonnen, noch zehn Tage, dann hatte er es, kurz vor Beginn des neuen Semesters, geschafft. Bis jetzt war alles im Großen und Ganzen zufriedenstellend

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