Schwaben-Angst
verlaufen, keine außergewöhnlichen Probleme, keine Vorfälle, die ihm den alltäglichen Weg zum Krankenhaus hätten erschweren können. Natürlich war es kein Honigschlecken, was ihn in den sterilen, nach Desinfektionsmitteln und Etherlösungen riechenden Räumen erwartete. Menschliches Leid und Elend in so zahlreichem Ausmaß hatte er noch nie zuvor intensiv miterlebt. Doch je mehr Wochen er in der Klinik verbrachte, desto sicherer wurde er, dass er diesmal, im zweiten Anlauf, endgültig den richtigen beruflichen Weg eingeschlagen hatte.
Holger Schäffler zog seine Jacke an, schenkte sich aus der Thermoskanne eine große Tasse Tee ein. Er hatte es sich während der Zeit des Praktikums angewöhnt, die Kanne am Abend zu füllen, um morgens warmen Tee zur Verfügung zu haben. Die Tasse in der Hand, stellte er sich ans Fenster, blickte in den dämmrigen Morgen. Unter ihm erstreckten sich die Beete und Büsche der dem Stift vorgelagerten Gärten, begrenzt vom schmalen Lauf des Neckar. Er schaute auf den Fluss, sah die feinen Nebelschwaden, die über dem Wasser hingen. Wie dünne, helle Wolken stiegen sie auf.
Unmittelbar hinter dem Wasser erhob sich die von hohen Platanen bewachsene, langgezogene Neckarinsel. Die Böschung ragte nur wenige Dezimeter über den Wasserspiegel. Holger Schäffler trank seinen Tee, blickte zur Insel, sah eine seltsam verkrümmte Gestalt auf der Böschung direkt neben dem Wasser liegen. Ein Mensch zu dieser frühen Stunde am Neckarufer? Hatte er im ersten Moment noch geglaubt, er habe es mit dem mächtigen Wurzelgewirr einer Platane zu tun, dessen Aussehen durch einen unergründlichen Zufall einem in verkrampfter Haltung auf die Erde hingeworfenen Körper glich, so wurde ihm innerhalb von Sekunden klar, dass es sich wirklich um ein menschliches Wesen handelte: Genau so hatten die Leichen ausgesehen, die vor wenigen Wochen von ihm und seinen Kommilitonen im Toxikologie-Seminar seziert worden waren: Menschen, die an einer Blausäure-Vergiftung gestorben waren. »Möge es Ihnen erspart bleiben, jemals diesen Anblick aus der Nähe genießen zu müssen«, hatte die Professorin noch formuliert, »es könnte ihr Liebesleben für einige Stunden lahmlegen.« Sie hatten gelacht, ihre Unsicherheit den schrecklich entstellten Leichen gegenüber zu überspielen versucht.
An diesem Morgen lag Holger Schäffler jeder Anflug von Ironie fern. Zitternd vor Aufregung stellte er seine Tasse ab, rannte zum Telefon.
23. Kapitel
Wenige Minuten nach halb sieben am frühen Dienstagmorgen wurde Steffen Braig vom Läuten des Telefons geweckt. Er fühlte sich mitten aus dem Schlaf gerissen, glaubte, es sei erst kurz nach Mitternacht und das störende Geräusch der Inhalt eines bösen Traums. Erst als er seine Augen unter dem unaufhörlichen, in gleichmäßigen Abständen wiederkehrenden Lärm mühsam öffnete, merkte er, dass es draußen bereits hell war. Schwerfällig richtete er sich auf, nahm den Hörer ans Ohr.
»Stöhr. Es tut mir Leid, wenn ich störe, aber …«
Braigs Müdigkeit wich für einen kurzen Moment, machte angespannter Aufmerksamkeit Platz. Er ahnte, was ein so früher Anruf des Kollegen höchstwahrscheinlich bedeutete. »Was ist passiert?«
»Mhm, wir wurden vor wenigen Minuten darüber informiert, dass sich heute Morgen, also gegen …«
»Ja, was denn?« Stöhrs langatmige Schwerfälligkeit nervte bereits zu so früher Stunde.
»Ein Toter.«
Doch nicht schon wieder, schoss es Braig durch den Kopf, doch nicht schon wieder … »Gift?«, rief er laut.
»Genau. Blausäure. Es tut mir Leid.«
»Das darf doch nicht wahr sein!« Er spürte, wie sich sein Puls beschleunigte. »Wo?«
»In Tübingen.« Stöhr beschrieb ihm die Stelle auf der Neckarinsel, wo man den Toten gefunden hatte.
»Wer ist das Opfer? Wissen die Kollegen schon Bescheid?«
Stöhr zögerte mit seiner Antwort. »Ein Mann … Mehr wurde mir nicht mitgeteilt.«
Braig richtete sich seufzend auf, erfuhr, dass Stöhr bereits die Kriminaltechniker informiert und an den Tatort gebeten hatte, sagte ihm zu, die Sache zu übernehmen. »Wenn es sich tatsächlich schon wieder um Blausäure handelt, muss es wohl einen Zusammenhang mit unseren Ermittlungen geben.«
Er legte den Hörer auf den Apparat, dachte an die entstellten Gesichter Konrad Böhlers und Bernhard Hemmers. Weit aufgerissene, um den letzten Atemzug ringende Münder, ins Unendliche starrende Augen, völlig verkrampfte Gesichtszüge. War es das, was ihn heute wieder
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