Schwaben-Angst
Sturz geboten haben musste, dass sie ihn so selbstverständlich in ihre Aussage mit einbezog. Dann sah er wieder das entstellte Gesicht unter sich, verlor jeden Anflug eitlen Selbstmitleids. »Wollte er ihn ins Wasser werfen?«
Meike Schlögel zeigte auf Rössle. »Ihr Kollege glaubt, dem Täter ging es darum, Zeit zu gewinnen. Oben auf dem Weg sind manchmal selbst um Mitternacht herum noch Passanten unterwegs, oft ganze Gruppen. Vorne, am Ende der Insel, gibt es einen Treffpunkt junger Leute. Der Täter spekulierte wohl, hier am Ufer, hinter dem Gebüsch, könne die Leiche nicht so schnell entdeckt werden. Das scheint mir einleuchtend.«
Braig folgte der Schleifspur nach oben, sah die Markierungen der Techniker. Rössle und Rauleder hatten gründlich gearbeitet, alle Fußabdrücke waren genau gekennzeichnet. Im nassen Gras beziehungsweise der feuchten Erde des Bodens hatten sie sich leicht verfolgen lassen. Wieder schien die Täterin oder der Täter nichts unternommen zu haben, sie zu verwischen, um es der Polizei schwerer zu machen, ihr oder ihm auf die Schliche zu kommen.
»Ja, sie sind’s. Hundert pro.« Rössle hatte sich erhoben, kam auf Braig zu. Er trug ein Notebook in Händen, zeigte auf den Bildschirm. »Identisch. I han alles dabei, brauch net mal mehr ins Labor.«
»Dieselben Fußabdrücke wie in Rotenberg und Großaspach.«
Der Techniker nickte. »Ohne jeden Zweifel.«
»Frau Böhler kommt dafür in Frage?«
Rössle streckte beide Arme weit von sich, das Notebook in der Rechten. »Wie unzählige andere auch.«
»Ich lasse sie überprüfen. Ihr Alibi heute Nacht.« Braig zog sein Handy vor, gab im Amt Bescheid.
Neundorf, die das Gespräch angenommen hatte, versprach, sofort nach Rotenberg zu fahren.
»Wer ist der Tote?« Braig wandte sich Rössle zu.
Der Techniker zeigte auf die Ärztin. »Ihr hasch es zu verdanke.« Er lief zu seiner Tasche, die er neben der großen Platane abgestellt hatte, streckte Braig eine durchsichtige Kladde entgegen. »Ausweis, Geldbeutel und dieses Blatt waret in seiner hintere Hosetasche. Sie hat die Leiche zur Seite dreht und alles rauszoge.«
Der Kommissar starrte auf den Ausweis und das leicht zerknitterte und angefeuchtete Papier, sah, dass es sich um den Briefkopf einer Firma handelte.
Kurierdienst Larch
Dieter Fehr, Geschäftsführer
Er brauchte nicht zu überlegen, wusste es sofort: Das Blatt aus der Wohnung. Die Liste der Männer, die ihnen unbekannt waren. Der Name, der wie der Böhlers und Hemmers bereits durchgestrichen war.
»Nein«, hauchte er, »nein.« Er spürte, wie sein ganzer Körper vibrierte.
Lars Rauleder kam zu ihm her, betrachtete den Inhalt der Kladde. »Du denkst auch an das Blatt, das ich hinter dem Sofa fand? Scheiße, was?«
Braig nickte wortlos.
»Die Wohnung«, sagte Rauleder, »sie hat damit zu tun. Jetzt gibt es endgültig keinen Zweifel mehr, ja?«
»Ihr glaubt, dass es sich wirklich um den Mann hier handelt?«
Rössle deutete auf den Inhalt der Kladde. »Das Bild auf dem Ausweis gibt net viel her. Aber i han vorhin scho angrufe. Zuerst bei ihm daheim. Da nimmt niemand ab. Dann in der Firma. Diese Nummer.« Er zeigte auf die Ziffern, die als Verbindung zum Kurierdienst Larch angegeben waren. »Um halb acht hätt er seinen ersten Termin ghabt. Eine sehr wichtige Sache mit einem Großkunden. Er isch aber laut Aussage der Sekretärin net erschiene. Ohne Grund. Das hätte er sich noch nie erlaubt, hat die Frau gsagt. Hasch du noch Frage?«
Der Name auf der Liste! Sie blickten sich gegenseitig an, entsetzt. Alle dachten das Gleiche.
Braig weigerte sich instinktiv, dem Kollegen zuzustimmen. Alles in ihm sträubte sich dagegen. Wenn der Techniker Recht hatte …
Er lief ein paar Schritte weiter zum nächsten Baum, lehnte sich an den breiten Stamm. Das Holz war nass, Tropfen glitzerten in den schmalen Zwischenräumen der Rinde. Es lief ihm heiß und kalt zugleich über den Rücken. »Es kann kein Zufall sein?«, fragte er laut.
»Alle Idiote von Sindelfinge, des wär a bißle zu viel Zufall«, brummte Rössle.
Mussten sie es wirklich ins Auge fassen, gab es keine andere Möglichkeit? Waren sie wirklich gezwungen, die Liste mit den Namen ernst zu nehmen? Drei waren durchgestrichen, alle drei hatte er tot vor seinen Füßen liegen sehen. Mussten sie wirklich damit rechnen, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis der Nächste folgte? In welche Dimensionen menschlichen Hasses waren sie geraten?
Braig brauchte die psychische
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