Schwaben-Angst
Fernsehschirm verbracht hatten.
»Nicht, dass Sie auf falsche Gedanken kommen, Herr Kommissar. Schließlich sind es Frauen, die mit Gift töten.«
Sie hatte sich außer Stande gesehen, dem Mann auch nur eine einzige Träne nachzuweinen, weil er ihrer Auffassung nach die alleinige Verantwortung für den Selbstmord ihrer Tochter trug. Er hatte diese beruflich und privat ausgebeutet und ruiniert und sie dann, als sie für kurze Zeit ihre Leistungsfähigkeit eingebüßt hatte, ohne jeden Skrupel zum alten Eisen geworfen – so jedenfalls die Sicht der Mutter.
Nach seinem Besuch bei Klara Berg war Braig zur Neckarinsel zurückgekehrt, um mit Rössle und Rauleder gemeinsam die Wohnung Dieter Fehrs zu untersuchen.
Das Hochhaus in Roßdorf, einer Trabantensiedlung Nürtingens, war eine der abschreckendsten Bausünden, die Braig je gesehen hatte. Hoch auf einem Berg über der kräftig prosperierenden Industriestadt gelegen, dominierte der klobige Betonklotz die gesamte Umgebung. Ein großer, asphaltierter Vorplatz, Horden spielender Kinder, weitläufige Glas- und Stahlfronten, mehrere Aufzüge, dazu auf jedem Stockwerk die gleichen dunklen Wohnungszugänge – für keinen Preis der Welt hätte er sein unruhiges Großstadtquartier mit einem der Räume hier getauscht. Was seine Kritik an den abstoßenden Betonmassen milderte, war die wahrhaft grandiose Aussicht aus einem der breitflächigen Panoramafenster auf das Vorland der Alb.
Die Wohnung Fehrs war nicht übermäßig komfortabel eingerichtet: Ein langgezogenes Wohnzimmer mit der gewohnten Polsterkombination und einer, wie Braig urteilte, etwas protzigen Schrankwand aus dunklem Eichenholz, ein kleines Schlafzimmer mit einem Stapel ungebügelter Wäsche auf dem Boden und eine konventionell eingerichtete Küche mit Spüle, Herd und den üblichen Elektrogeräten. Fehr musste wohl, wie seine Sekretärin heute Morgen angedeutet hatte, wirklich einen Großteil seines Einkommens an die ehemalige Familie abgegeben haben, auffälligen Luxus strahlten diese Räume nicht aus.
Sie durchsuchten die Schränke, die Betten, dazu mehrere Kartons, die der Mann im Keller aufbewahrte, fanden keinen Hinweis auf eine Verbindung zu den anderen Verbrechen, auch kein Indiz dafür, dass bei Fehr wie bei Böhler und Hemmer Drohbriefe eingegangen waren, die den Mord ankündigten.
»Wer kontrolliert die Post?«, hatte Braig Frau Egerer im Büro in Kirchentellinsfurt gefragt.
»Ich.«
»Jeden Tag?«
»Immer«, hatte sie geantwortet. »Herr Fehr hasst es, sich auch noch um das Schriftliche kümmern zu müssen.«
»Er hat keine Drohbriefe erhalten?«
Ihr Gesichtsausdruck hatte jeden Kommentar erübrigt. »Drohbriefe? Von wem?«
Die Sekretärin war bereit, jeden Eid zu schwören, dass in den Jahren, in denen sie für die Firma Larch tätig war, noch nie ein Drohbrief – in welcher Form auch immer – im Büro eingegangen war. »Und ich kontrolliere die Post«, hatte sie mit Nachdruck betont, »jeden Tag.«
»Haben wir etwas übersehen?«, fragte Braig die beiden Techniker, als sie nach zwei Stunden intensiver Suche die Wohnung Fehrs verließen.
»Du mit deine Drohbrief!«, knurrte Rössle. »Bei dem hier hat’s halt pressiert. Der Verbrecher hot koine Zeit mehr ghabt, dem noch groß zu schreibe. Der hat den erledige wolle, au ohne Brief, fertig!«
Braig wusste nicht, was er davon halten sollte. Bei Konrad Böhler wie bei Bernhard Hemmer hatten sie identische Briefe gefunden, Dieter Fehrs Büro und Wohnung dagegen wiesen keinerlei Hinweise auf den Eingang solcher Schreiben auf. Weshalb? Hatte der Täter seine Taktik geändert? War es ihm zu gefährlich geworden, mit Briefen eindeutige Spuren zu legen? Oder steckte doch eine andere Person hinter dem Mord in Tübingen – trotz der identischen Schuhabdrücke?
Braig spürte seinen unruhigen Magen, schaute auf die Uhr. Zehn nach zwei. Kein Wunder, dass er Hunger hatte.
Er bat Rauleder, am Rand der Nürtinger Innenstadt anzuhalten, holte bei einem Bäcker mehrere Brezeln und Brötchen, verteilte sie an die Kollegen.
Die anschwellenden Kopfschmerzen hatten Braig schon fest im Griff, als sie im Amt eintrafen. Er lief in sein Büro und begann das immer gleiche Ritual: Kaffee in den Filter füllen, Maschine einschalten, sich kaltes Wasser ins Gesicht klatschen. Vielleicht war es nur die übliche mittägliche Müdigkeit, die ihm zu schaffen machte. Der Druck in seinem Kopf ließ nur unmerklich nach. Er wartete, bis seine Haut wieder trocken war,
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