Schwaben-Angst
zog zu einer Jüngeren. Beate verkraftete die Trennung nicht, wurde krank. Durchblutungsstörungen, Zucker, Bandscheibenvorfall. Trotzdem blieb sie in der Firma, rackerte sich ab. Vor sechs Monaten erlitt sie einen Schwächeanfall, arbeitete trotzdem weiter. Weil sie zwei, drei Wochen ihr tägliches Pensum nicht ganz schaffte, kündigte er ihr. Sie sei zu alt, ließ er in der Firma verbreiten, den täglichen Anforderungen nicht mehr gewachsen.«
Grund genug, den Mann aus Rache zu töten, überlegte Braig. Die verschmähte Partnerin, die beruflich wie privat ausgebeutete und zum alten Eisen geworfene Frau – gab es ein besseres Motiv? Wenn er den Ausführungen Klara Bergs vertrauen konnte, hatte ihre Tochter allen Grund gehabt, Fehr zu hassen bis aufs Blut, ihm Hölle, Tod und Teufel an den Hals zu wünschen und ihn mit Gift ins Jenseits zu verfrachten – und doch kam sie für den Mord nicht in Frage, weil sie längst selbst schon im Jenseits war. Hatte ihre Mutter die Sache für sie in die Hand genommen und sozusagen stellvertretend – jetzt auch noch als Racheengel für den Tod ihrer Tochter – erledigt?
Er betrachtete die alte Dame, die matt und kraftlos auf ihrem Stuhl lehnte, das von der Wand abgenommene Foto in der Hand, sichtbar getroffen von den Erinnerungen, die sie selbst beschworen hatte. Klara Berg, die Mörderin dreier Männer?
Aufgrund des von Helmut Rössle eindeutig belegten Fußabdrucks mussten sie davon ausgehen, dass es sich in allen drei Fällen um dieselbe Täterin oder denselben Täter handelte. Diese Frau hier vor ihm sollte dafür in Frage kommen?
Braig wollte es nicht glauben. Er musterte ihre Schuhe, schätzte sie nicht größer als die zum Tatort passenden. Klara Berg?
Plötzlich kam ihm ein anderer Einfall. »Kennen Sie eine Frau Böhler?«
»Wer soll das sein?«
»Marion Böhler aus Stuttgart-Rotenberg.«
Klara Berg schüttelte den Kopf. »Nein, nie gehört.« Sie sah ihm direkt in die Augen, hielt seinem Blick bis zur letzten Sekunde stand.
Er musste nachforschen, die Möglichkeit überprüfen, ob es doch eine Verbindung zwischen den Frauen gab.
»Mord, sagen Sie?«, fragte sie plötzlich.
Er nickte.
»Wo?«
Braig sah keinen Grund, warum er es ihr nicht berichten sollte. »Auf der Neckarinsel«, sagte er, »heute Nacht.«
Sie hörte ihm aufmerksam zu, folgte seinen Worten mit konzentrierter Miene. »Wie ist es geschehen? Wurde er erschossen?«
»Gift«, antwortete er, »Blausäure.«
Ihr Gesicht verriet deutliche Überraschung. »Blausäure? Gab es da nicht in den letzten Tagen bereits ein oder zwei Delikte? Ich meine, die Zeitungen berichteten darüber.«
»Das ist richtig. Zuerst in Stuttgart-Rotenberg, dann in Großaspach bei Backnang.«
»Und jetzt suchen Sie den Mörder, richtig?«
Braig nickte.
»Sie ermitteln selbst?«
»In allen drei Fällen.«
»Sind Sie deshalb hier?« Klara Berg ging zur Wand, hängte das Bild an seinen Platz.
Er wartete, bis sie wieder auf ihrem Stuhl saß. »Vielleicht können Sie mir ja helfen«, sagte er.
Sie betrachtete ihn aufmerksam. »Giftmorde. Gehe ich recht in der Annahme, Sie suchen eine Frau?«
»Ich weiß es nicht. Wie kommen Sie darauf?«
»In alten Krimis benutzen Frauen meistens Gift, wenn sie einen Menschen aus dem Weg räumen wollen.«
»In alten Krimis, ja. Aber dies ist Schreibtischmord.«
»Mag sein. Aber wer immer es war, ob Mann oder Frau, er hat ein gutes Werk getan. Dieser Kerl hat es verdient.« Klara Bergs Augen schienen zu strahlen, als sie Braig ihre Worte entgegenschleuderte.
26. Kapitel
Langsam gelang es der Sonne, die sich auflockernde Wolkendecke zu durchbrechen.
Braig schaute aus dem breiten Panoramafenster im 14. Stock des Hochhauses in Nürtingen-Roßdorf, betrachtete das in grelle Lichtkaskaden getauchte Vorland der Schwäbischen Alb. Apfelbäume voller Früchte, kräftig grüne Wiesen, dazwischen weite Siedlungsflächen mit roten Hausdächern, aber auch steril-graue Gewerbeansammlungen, breite Asphaltbänder, von Blechmassen verstopft. Im Hintergrund, vom wechselnden Licht für Sekunden in Schwärze, dann wieder in ein dunkles Blau getaucht, die sich bis fern an den Horizont erstreckende, hoch aufgerichtete Mauer der Schwäbischen Alb.
Er hatte sich von Frau Berg verabschiedet, nachdem die alte Dame ohne jede Aufforderung auf die Idee verfallen war, ihm eine andere Heimbewohnerin als Zeugin dafür zu präsentieren, dass sie den vergangenen Abend bis kurz vor Mitternacht gemeinsam vor dem
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