Schwaben-Filz
sie wieder in die Richtung von Hellners Anwesen aufgebrochen, hatte dann, in angemessener Entfernung von der das Gelände immer noch belagernden, neugierigen Meute ihr Handy aus der Tasche gezogen und sich bei Stöhr über das Gerichtsverfahren gegen den Mann erkundigt.
»Hellner war also tatsächlich angeklagt, seinen eigenen Vater getötet zu haben?«
»Hm, so ist es. Er wurde aber freigesprochen. Dem Urteil nach war es seine Mutter. Notwehr, entschieden die Richter. Der Mann war alkoholabhängig und deshalb ohne Arbeit. Er soll seine Familie jahrelang misshandelt haben. Seine Frau und sein Sohn seien ständig von ihm verprügelt worden. Als er wieder einmal betrunken war und in diesem Zustand auf seinen Sohn einschlug, soll die Mutter dazwischengegangen sein. Dabei soll es passiert sein.«
»Götz Hellner war damals also noch nicht erwachsen.«
»Hm, es ist so, er war sechzehn.«
»Sechzehn und ein ständig prügelnder Vater.«
Neundorf war sich darüber im Klaren, welche Hypothek diese Erfahrung für das gesamte spätere Leben eines Menschen bedeuten konnte. Von der wichtigsten Bezugsperson misshandelt statt geliebt zu werden, und das über Jahre hinweg – niemand war fähig, das von sich abzustreifen wie ein altes, zu klein gewordenes Kleidungsstück. Im Verlauf ihrer beruflichen Tätigkeit waren ihr zu viele, durch traumatische Erlebnisse ihrer Kindheit aus der Bahn geworfene Menschen begegnet, als dass sie den Punkt achtlos zur Seite legen konnte.
So borniert viele Behauptungen des alten, von Vorurteilen triefenden Nachbarn auch waren, über die Tatsache, dass das Opfer im Garten Hellners entdeckt worden war, konnte sie nicht hinwegsehen. Sie musste sich den Mann eingehender vornehmen.
»Erlauben Sie, dass wir Ihr Haus daraufhin überprüfen, dass die Frau nicht hier bei Ihnen war?«, fragte sie deshalb, als sie den Pulk der Neugierigen passiert und Hellners Wohnung wieder betreten hatte. Polizeiobermeister Reule leistete dem Mann immer noch Gesellschaft.
»Was tun Sie, wenn ich nein sage?«, erwiderte Hellner.
Sie hörte den aggressiven Unterton, blieb dennoch hart. »Dann besorge ich mir den richterlichen Durchsuchungsbeschluss. Das dauert nur wenige Minuten, Sie können mir glauben.«
Hellner fuhr sich über seine immer noch verstrubbelten Haare. »Das bezweifle ich nicht. Die Willkür und die Gewalt von Bullen haben wir zur Genüge erlebt. Sie können sich alles erlauben, das ist mir bekannt.«
Neundorf sah seine von purer Abscheu geprägte Miene, schüttelte den Kopf. »Warum sind Sie so aggressiv? In Ihrem Garten wurde eine Leiche entdeckt, Sie selbst wurden beobachtet, wie Sie sich daran zu schaffen machten. Die Frau trägt ein T-Shirt, das sie als Befürworterin des Bahnhofsneubaus in Stuttgart ausweist, Sie selbst gelten als Gegner. Finden Sie es wirklich so absurd, wenn wir uns fragen, wie die Tote auf Ihr Grundstück kommt und ob Sie etwas mit ihr zu tun haben?«
»Sie haben Ihr Urteil doch längst gefällt: Für Sie bin ich der blutrünstige Killer. So wie Sie ohne jeden Anlass auf Unschuldige einprügeln, gehen Sie auch mit Ihren Anschuldigungen vor.«
»Ich weiß nicht, woher Ihre Aggressionen stammen. Ich schlage prinzipiell niemanden, es sei denn, ich werde angegriffen und muss mich wehren. Und für meine Kollegen gilt das genauso.« Sie zeigte auf Reule, sah dessen zustimmendes Nicken. »Außerdem möchte ich mit dem Mann sprechen, der zur Zeit bei Ihnen wohnt. Wenn Sie wirklich so unschuldig sind, wie Sie behaupten, kann er das ja vielleicht bezeugen.«
Hellner reagierte anders, als sie erwartet hatte. Er erbleichte sichtbar, verlor seine aggressive Selbstsicherheit, mit der er ihr gegenüber bisher aufgetreten war. »Der Mann, der bei mir wohnt?«, fragte er. Seine Überraschung war offensichtlich.
»Sie haben gedacht, Sie können ihn vor uns verheimlichen?«
»Verheimlichen?« Ihr Gegenüber rang um Beherrschung. »Da gibt es nichts zu verheimlichen. Ich weiß nur nicht, was Sie mein Besuch überhaupt angeht.«
»Normalerweise nichts, da haben Sie recht«, stimmte sie ihm zu. »Sie können Besuch empfangen, so viel Sie wollen. Aber in dem Fall bin ich doch verpflichtet, mich nach ihm zu erkundigen und sei es nur, dass er Sie entlastet.«
»Renck, der alte Stasi-Offizier. Daher weht der Wind.«
»Stasi-Offizier?«
»Der überwacht doch das ganze Viertel. So muss es in der DDR gewesen sein. Ich will nicht wissen, mit was der Sie alles vollgelabert hat. Was für eine
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