Schwaben-Filz
hergefallen. Markus war es nicht.«
»Wer sagt das?«
»Markus. Er hat mir alles erzählt. Alles ganz genau.« Zum ersten Mal im Verlauf ihrer Begegnung schaute sie ihm direkt in die Augen, hielt seinem Blick für einen Moment stand. »Die haben ihn reingelegt. Die sind schuld.«
»Das hat er Ihnen erzählt?« Braig konnte seine Skepsis nicht verbergen. »Ich dachte, er behandelt Sie wie seine kleine Schwester?«
Marianne Heun schien seinen Einwand nicht wahrzunehmen. »Er war betrunken. Genau wie die. Die sind über das Mädchen hergefallen, wie sie es immer tun in der Hütte. Sie bestellen sich Straßenmädchen, käufliche, verstehen Sie?«
Er nahm verwundert den altertümlichen Ausdruck wahr, mit dem sie den Sachverhalt der Prostitution beschrieb. »Woher wollen Sie das wissen?«, fragte er.
»Das tun die fast immer, wenn sie auf der Hütte feiern. Markus war oft dabei. Die waren betrunken, haben vergessen, dass das Mädchen kein käufliches von der Straße war. Später haben sie Geld bezahlt, viel Geld. Und Markus einen riesigen Bauauftrag versprochen, wenn er alle Schuld auf sich nimmt. Die haben ihn reingelegt.«
Er wandte seinen Blick nicht von ihr ab, suchte in ihrer Körperhaltung zu lesen, ob sie sich das selbst überlegt, in den Jahren der Enttäuschung über das kriminelle Verhalten des Bruders zurechtfantasiert hatte, um den Schock der Verurteilung besser bewältigen zu können, oder ob sie das von Ruppich selbst gehört hatte.
»Wenn Markus trinkt, ist er zu allem fähig«, sagte sie unvermittelt. »Das ist seine schwache Stelle. Die haben das genau gewusst. So kamen sie selbst davon. Die haben ihn abgefüllt und zum Täter gemacht. Und er hat es erst später begriffen.«
»Wann?«
»Im Gefängnis. Da war alles zu spät.«
Braigs Skepsis schwand mehr und mehr, je länger er die Frau betrachtete und ihren Worten folgte. Er traute es diesem verängstigten, von so wenig Selbstwertgefühl beseelten Wesen einfach nicht zu, dass sie ihm alle diese Worte nur aus reiner Fantasie vorspiegelte. Ein Mensch, dem jeglicher eigenständige Behauptungswille fehlte, würde es nicht wagen, einem ihm leibhaftig gegenübersitzenden Polizeibeamten das Blaue vom Himmel zu erzählen. Er sah ihren unstet an ihm vorbeihuschenden Blick, bemerkte, wie es in ihr arbeitete.
»Und dann haben sie ihm nicht einmal geholfen, seine Firma zu retten. Obwohl sie es ihm versprochen hatten.«
»Er musste Konkurs anmelden, als er im Gefängnis saß.«
Sie legte ihre Stirn in Falten, schien ihn nicht zu verstehen. »Seine Firma. Er war stolz auf die Häuser, die er gebaut hatte. Aber dann, im Gefängnis … Sie hatten ihm versprochen, für neue Aufträge zu sorgen. Über ein Jahr ging das gut. Aber dann ließen sie ihn fallen. Er hat alles verloren.«
»Und jetzt will er sich rächen«, sagte er.
»Weil die sonst niemand bestraft«, erklärte Marianne Heun. »Sollen die gerade so davonkommen?«
12. Kapitel
Welchen Wahrheitsgehalt auch immer man der Verschwörungstheorie Markus Ruppichs zubilligen wollte, eine Tatsache schien unumstößlich: Der Mann war offensichtlich vollkommen davon überzeugt, Opfer einer üblen Verleumdung seiner Freunde beziehungsweise Geschäftspartner geworden zu sein. Jahrelang – fast die gesamte Zeit seines Aufenthaltes im Gefängnis – hatte er auf die Möglichkeit der Abrechnung gewartet, jetzt endlich war es soweit, zur Rache zu schreiten. Einer nach dem anderen von den Halunken, die ihn zur Vertuschung ihrer eigenen Schandtat der Verfolgung der Strafbehörden ausgeliefert hatten, sollte dafür bluten. Rache durch seiner eigenen Hände Werk, das war sein Ziel für die nächsten Wochen, vielleicht das Einzige, was er in seinem Leben überhaupt noch tun wollte. Deshalb hatte er sich zurückgezogen in irgendein anonymes Versteck, an einen Ort, der wohl kaum einem seiner Bekannten geläufig war, darauf lauernd, sein nächstes Opfer zur Strecke zu bringen.
Ein durchaus nachvollziehbares, von archaischen Trieben geprägtes Geschehen, hatte Braig überlegt, eine Theorie, die er als Ermittler angesichts der Leiche und des vorgefundenen Drohschreibens wie auch der Worte Marianne Heuns ernst nehmen und auf keinen Fall einfach zur Seite schieben durfte.
So offen die junge Frau letztendlich auf alle seine Fragen eingegangen war, den Aufenthaltsort ihres Bruders hatte sie ihm nicht nennen können. Er hatte sie mehrfach gebeten, darüber nachzudenken, hatte sie immer wieder an den von ihr
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