Schwaben-Herbst
verschwanden?«
»Na, letztes Jahr, bei der Lese. Plötzlich waren ein paar Leute nicht mehr da.«
»Wann? Mitten während der Arbeit?«
»Ja. Von einem Tag zum anderen.«
»Und das war nicht abgesprochen?«
»Nein, natürlich nicht«, antwortete Melanie Rober. »Wir hätten die dringend gebraucht. Was glauben Sie, wie ärgerlich das ist, wenn mir nichts, dir nichts, von einem Tag auf den anderen plötzlich eine ganze Gruppe von Helfern fehlt. Die Trauben reifen deswegen nicht langsamer.«
»Und Sie hatten den Lohn bereits ausgezahlt?«
»Nein, das nicht«, wies die Frau Braigs Vermutung zurück. »Wir zahlen doch nicht im Voraus! So dick haben wir es jetzt auch wieder nicht. Das Gegenteil ist der Fall. Die haben sich ihren Lohn nicht abgeholt. Nicht einmal ihre Flaschen. Bis heute nicht.«
»Wie bitte?«
»Ja, ich weiß, das klingt verrückt, aber die haben ihr Geld und das Sortiment an Flaschen bis heute nicht erhalten. Dabei sind die normal ganz verrückt darauf, vor allem auch auf den Wein. Sie erhalten besondere Lagen als Belohnung, das sind exklusive Geschenke. Manche Leute helfen nur deswegen mit. Aber die sind verschwunden, damals, ich habe es Ihnen doch gerade erzählt, von einem Tag auf den anderen, und wir haben nichts mehr von ihnen gehört, von keinem einzigen.«
»Wie viele Leute waren das?«
»Die einfach nicht mehr erschienen sind?«
»Ja.«
»Ich weiß es nicht mehr genau«, antwortete Melanie Rober. Sie überlegte, wandte sich an ihren Mann. »Du, Jo?«
»Keine Ahnung. Ich war so mit der Arbeit beschäftigt …«
»Wissen Sie zufällig noch deren Namen?«
Die Frau stemmte die Arme in die Hüften, schaute aufmerksam in die Runde. »Sie stellen vielleicht Fragen.« Sie fuhr sich übers Gesicht, zupfte sich eine Haarsträhne von der Stirn. »Da müsste ich im Büro nachschauen. In meinen Unterlagen finde ich die, ja. Aber auswendig? Tut mir leid, das ist zu lange her.«
»Und der Tag, an dem die Gruppe verschwand?«, fragte Braig. »Wissen Sie noch, wann genau das war?«
»Der Tag? Um Gottes Willen, nein, ich weiß ja nicht einmal, wann genau die bei uns gearbeitet haben. Wir sind mehrere Wochen mit der Ernte beschäftigt. Das geht nicht auf einmal.« Sie hob abwehrend ihre Hände hoch.
»Dieser Mann hier ist also von einem Tag auf den anderen verschwunden«, griff Braig ihre Aussage noch einmal auf, »zusammen mit mehreren anderen Arbeitern. Letztes Jahr während der Ernte.«
Die Frau nickte zustimmend.
»Zu diesem Zeitpunkt hatten die aber schon ein paar Tage bei Ihnen gearbeitet. Richtig?«
»Einen oder mehrere Tage, ja. Wie lange genau, kann ich auswendig nicht sagen.«
»Und keiner von denen, nicht ein einziger, ist später gekommen, um seinen Lohn abzuholen?«
»Nein«, antwortete Melanie Rober, »das ist ja das Seltsame, was uns so gewundert hat. Ich habe sogar noch versucht, die zu erreichen, später, als wir nicht mehr so viel Arbeit hatten. Die jedenfalls, von denen ich die Adresse oder wenigstens eine Telefonnummer hatte, um sie nach ihrer Kontonummer zu fragen, aber das ging nicht, ich bekam die nicht an den Apparat. Normalerweise zahlen wir die Leute bar aus, verstehen Sie, am letzten Tag, aber in dem Fall … Ich habe niemand erreicht, mehr kann ich nicht sagen. Es ist nicht unsere Schuld.« Sie warf ihren Gesprächspartnern einen ratlosen Blick zu.
»Dann brauchen wir nur noch die Namen«, sagte Neundorf. »Die Namen der Leute, die letzten Herbst gemeinsam mit Andreas Sattler so plötzlich verschwanden.«
6.
ZUM EWIGEN GEDENKEN AN DEN GNÄDIGSTEN VATER DES VATERLANDES KARL HERZOG VON WÜRTTEMBERG DER DIE STREITIGKEITEN UM WALDGEBIETE ZWISCHEN ENDERSBACH UND STRÜMPFELBACH HIERORTS SCHL1ESSLICH FEIERLICH UND GLÜCKLICH SCHLICHTETE.
AM 7. JUNI 1793.
Er wusste nicht mehr, wie lange er schon in die Betrachtung der Inschrift des Karlsteins versunken auf der Bank geruht hatte, schrak auf, als er die lauten Stimmen von Kindern hörte, die voller Begeisterung auf den unmittelbar benachbarten Spielplatz zustürmten. Er erhob sich, folgte dem Weg aus dem Wald Richtung Hirschkopf, sah einen Jungen und ein Mädchen auf die Schaukeln klettern. Die Kinder nahmen auf den schmalen Sitzflächen Platz, stießen sich mit den Füßen vom Boden ab, warfen ihre Körper mit lauten Begeisterungsschreien zurück.
Wie letztes Jahr, schoss es ihm durch den Kopf, sah das Bild wieder vor sich. Er auf der rechten Schaukel, sie auf der linken …
Die Kinder hinter ihm jubelten vor
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