Schwaben-Wahn
geballten Faust auf seinen Schädel.
Eine knappe Stunde später hatte er Tübingen erreicht. Er benötigte fast fünfzehn Minuten, die Klinik zu finden, stellte fest, dass er bereits zweimal aus Versehen an dem Gebäude vorbeigefahren war. Das Haus lag an einer stark frequentierten Straße, hatte eine mehrstöckige, weiß getünchte Fassade. Braig ging zur Eingangstür, einem schmalen, oben abgerundeten Portal, drückte den einzigen Knopf, der neben der dick gebalkten Aufschrift
Klinik Dr. Stock
zu finden war. Es dauerte fast eine Minute, bis sich eine krächzende Lautsprecher-Stimme meldete. Der Kommissar stellte sich vor, bat um Einlass.
»Einen Moment bitte«, kam die Antwort.
Auto auf Auto fuhr vorbei. Braigs Stimmung strebte einem neuen Tiefpunkt zu, als die Tür endlich nach innen schwang. Ein älterer Mann im weißen Kittel eines Mediziners öffnete.
»Conrad«, stellte er sich vor, »ich bin der Ärztliche Leiter des Hauses. Wir sprachen am Telefon miteinander. Entschuldigen Sie bitte, dass Sie so lange warten mussten.«
Braig nahm das unüberhörbare Friedensangebot an, reichte dem Arzt die Hand und folgte ihm die Treppe hoch ins erste Obergeschoss. Ein schmaler, mit einem dicken Teppich ausgelegter Gang führte in beide Richtungen. Großformatige Gemälde hingen an den Wänden. Die Einrichtung strömte Wärme und Wohlbefinden aus – alles, nur nicht die sterile Heimatlosigkeit einer gewöhnlichen Klinik. Sie schwenkten nach rechts, stoppten vor der ersten Tür.
»Wir gehen in mein Büro. Dort haben wir Ruhe«, erklärte Conrad.
»Herr Wangbiehler kommt dazu?«
Der Arzt gab keine Antwort, öffnete die Tür, ließ Braig eintreten. Das Zimmer war überraschend klein; ein schmaler Schreibtisch, ein breites Fenster, ein Zweisitzer-Sofa, drei bequeme Stühle.
Conrad wies auf das Sofa. »Bitte.«
Braig nahm Platz, zog seinen Ausweis vor, reichte ihn dem Arzt, der sich auf einen der Stühle setzte.
»Wir haben mit Herrn Wangbiehler senior, also dem Vater gesprochen«, erklärte Conrad. »Vor einer guten Stunde etwa. Das war wenig erfreulich; er befand sich mitten in einer wichtigen Konferenz.« Er betrachtete den Ausweis, nahm einen dicken Block vom Schreibtisch, notierte sich den Namen seines Besuchers. »Vorher hat mein Kollege Ihre Identität überprüft.«
»Wie bitte?«
Conrad lächelte, legte den Kopf zur Seite. »Durch einen Anruf bei einem befreundeten Herrn in der Leitung des Landeskriminalamtes. Wir sind ein privates Haus; nicht jeder erhält Zutritt.«
»Mit wem haben Sie gesprochen?«
»Wir pflegen Beziehungen«, erwiderte der Arzt. »Zu allen führenden Gremien dieses Bundeslandes.«
Braig fühlte sich vom elitären Jargon seines Gegenübers genervt, musste an sich halten, nicht aggressiv zu werden. »Und? Was haben Sie erfahren?«
»Es ging um Ihre Identität. Schließlich bestehen wir nicht auf einer richterlichen Anordnung.«
Braig wusste, dass er sich das Entgegenkommen des Mannes nicht verscherzen durfte, blieb freundlich. »Wir wollen Zeit sparen«, sagte er, »ohne bürokratischen Aufwand gelangen wir wesentlich schneller zum Ziel.«
Der Arzt nickte verständnisvoll, räusperte sich. »Sie interessieren sich für Herrn Wangbiehlers Aufenthalt gestern Mittag und heute Nacht, wie Sie mir am Telefon erklärten. Habe ich das richtig in Erinnerung?«
»Genau. Wenn ich ihn kurz unter vier Augen sprechen könnte ...«
Conrad fiel ihm ins Wort. »Leider nicht. Das ist nicht möglich.«
»Es dauert nicht lange. Ich habe kein Interesse, ihn lange ...«
»Leider«, der Arzt schüttelte seinen Kopf, »wie gesagt, das ist nicht möglich.«
»Dann benötige ich Zeugen«, erklärte Braig, »die genau bestätigen, dass sich Herr Wangbiehler gestern Mittag und heute Nacht nachweislich in Ihrer Klinik aufgehalten hat. Ich brauche Zeugenaussagen möglichst über den gesamten Zeitraum hinweg. Ihr Haus ist verschlossen? Oder können Ihre Patienten jederzeit nach draußen?«
Conrad reagierte wie in Zeitlupe. Er benötigte mehrere Sekunden, bis er endlich eine Antwort formuliert hatte. »Nein, wir sind kein offenes Haus. Unsere Patienten bleiben in unserer Obhut. Tag und Nacht.«
»Gut. Dann sollte ich zumindest mit den Leuten sprechen, die gestern und heute Nacht Dienst hatten. Wenn die bezeugen können ...«
»Das ist ohne Belang«, meinte der Arzt. »Herr Wangbiehler junior hat unser Haus am Samstag, also vorgestern, ohne unser Einverständnis und unser Wissen verlassen.«
»Wie
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