Schwaben-Wut
diskutierten über das Motto des Abends: »Dichtung und Wahrheit – Von Macht und Machtmissbrauch der Medien«.
Matthias Harf, einflussreicher Programmgestalter eines privaten Münchner Fernsehsenders, wehrte sich den halben Abend schon gegen Vorwürfe, die Wahrheit zugunsten der Einschaltquoten oft außer Acht zu lassen.
»Das entspricht wirklich nicht dem Stil unseres Hauses«, dozierte der Manager, wischte sich über seine kurzen dunklen Haare, zog nervös seine Krawatte zurecht.
»Die Verpflichtung, wahrheitsgetreu zu berichten, gehört zum Ehrenkodex aller unserer Mitarbeiter.«
»Der muss in einer exotischen Fremdsprache verfasst sein, die niemand versteht. Jedenfalls kann den bei Ihnen noch niemand gelesen haben«, konterte Manon Rinkert, eine rüstige Mittsechzigerin, die in der Sendung anhand eigener Erfahrungen über den allzu leichtfertigen Umgang von Journalisten mit der Wahrheit berichtet hatte.
Harf bezeichnete die Einlassung seiner Kontrahentin als billige Polemik, die es nicht wert sei, ernst genommen zu werden.
»Profit ist das einzige Wort, das in Ihrem Sender verstanden wird«, wiederholte die stämmige Frau, »und um den zu erzielen, ist Ihnen jedes, ich betone es nochmals, jedes Mittel recht.«
Der alerte Manager fuhr sich wieder über seine kurzen dunklen Haare, winkte scheinbar lässig ab. Er hatte ihre Vorwürfe während der Sendung ohne jede Aufgeregtheit an sich abtropfen lassen und die im Licht der Scheinwerfer hausbacken, ja fast vierschrötig wirkende Frau im wahrsten Sinn des Wortes alt und verschroben aussehen lassen, ihr damit die Gunst des Publikums entzogen und die Praktiken der Journalisten in ein weniger ungünstiges Licht gerückt.
Ihr Vorwurf, sein Sender habe vor wenigen Monaten Stuttgarter Berufsschülern hohe Summen bezahlt, damit diese vor laufenden Kameras gewaltsame Auseinandersetzungen vortäuschten und seine Redakteure verblüffend echt wirkende Kampfszenen auf den Bildschirm zaubern konnten, was mehrere polizeiliche Ermittlungsverfahren ausgelöst und den Ruf der Schule in der Öffentlichkeit schwer in Mitleidenschaft gezogen hatte, war Harf nur ein müdes Lächeln wert. Die Hinweise Manon Rinkerts, ihre Beschuldigungen seien durch ein Gerichtsverfahren inzwischen juristisch bestätigt, hatte er mit geschickten Redewendungen als das hysterische Geschwätz einer über das wahre Großstadtleben leider nur aus dritter Hand informierten Landpomeranze abgetan und dadurch das Publikum zu immer neuen Beifallsbekundungen veranlasst.
»Wir haben einen strengen Ehrenkodex«, hatte er immer aufs Neue wiederholt, »und wir legen sehr viel Wert darauf.« Ihr Gekeife dagegen wirke, je länger die Sendung dauere, nur noch lächerlich.
Harf war im Nachhinein mit dem Verlauf des Abends sehr zufrieden. Er hatte sich dafür eingesetzt, das in Teilen der Öffentlichkeit leicht lädierte Image seines Senders zu korrigieren, war keinem Streit aus dem Weg gegangen, hatte sich als verantwortungsvoller, toleranter Programmgestalter gezeigt. Die Hinweise und Empfehlungen seines Medienberaters waren voll aufgegangen: Vornehme Zurückhaltung üben, niemals emotional werden, aggressive Diskussionspartner einfach auflaufen und sie von unkontrollierbaren Gefühlen getrieben erscheinen lassen, auf alle Anfragen, auch Beschuldigungen, immer nur höflich und scheinbar verständnisvoll reagieren. Was wollte man mehr?
Besonders erfolgreich pflegte Harf seit Jahren bei TV-Auftritten die eingeschränkte, primär aufs Visuelle abgestimmte Konzentration der Fernsehkonsumenten auszunutzen, indem er dazu beitrug, unvorteilhaftes Aussehen oder die nicht gerade angenehm klingende Stimme eines Gegners durch indirekte Hinweise und Provokationen noch deutlicher ins Blickfeld der Zuschauer zu rücken: Eine Strategie, die ihm heute wieder hervorragend gelungen war. Manon Rinkert war voll auf diese Taktik hereingefallen, hatte sich den ganzen Abend an seiner scheinbar vornehmen Bescheidenheit gerieben und durch ihre ständig steigende Nervosität die Zustimmung eines Großteils der Zuschauer verscherzt.
»Sie begleiten uns zu unserer Abschiedsrunde?« Wieland Backes unterbrach die beiden Kontrahenten, wies auf die geöffneten Ausgangstüren. »Wir sollten uns beeilen, es ist schon spät.« Es war längst zur Gewohnheit geworden, dass das Redaktionsteam zusammen mit dem Moderator und den Diskussionsteilnehmern den Abend auf Einladung des Südwestrundfunks in einem Ludwigsburger Restaurant ausklingen
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