Schwaben-Wut
seiner Mutter neue Belastungen mit sich brachte.
Er hatte den frustrierenden Stillstand ihrer kriminalpolizeilichen Ermittlungen und den immer höheren Berg seiner Überstunden dazu genutzt, sich am späten Nachmittag erschöpft in einen Zug zu legen und nach Mannheim zu seiner Mutter zu fahren. Vom Bahnhof zu ihrer Wohnung im Stadtteil Lindenhof in einer ruhigen Seitenstraße unweit des Rheins waren es durch einen Nebenausgang nur wenige Minuten zu Fuß.
Schon beim Betreten des Wohnzimmers sah er die seltsame Figur. Sie stand, etwa dreißig Zentimeter hoch, mitten auf dem Tisch. Fragend betrachtete Braig das aus Holzimitat gefertigte Werk.
»Die Mutter Gottes«, erläuterte seine Mutter, »sie schützt unser Leben, steht uns täglich zur Seite. Dir und mir.«
»Prima«, sagte Braig, verzichtete auf jeden Kommentar, um seine Mutter nicht unnötig zu provozieren.
»Hätte ich früher zu ihr gefunden, Margita würde noch leben.«
Margita, seine ältere Schwester, war vor vier Jahren elend an Krebs gestorben. Seine Mutter hatte sich von dem Schock, den die Erkrankung, das lange Leiden und der Tod ihrer Tochter bei ihr ausgelöst hatten, immer noch nicht erholt.
»Die Mutter Gottes hilft allen, die ihr Ehre erweisen.«
Braig ließ sich in einen Sessel fallen, schaute seine Mutter fassungslos an. Wo hatte sie diese Parolen gelernt? War sie in ihrer isolierten vereinsamten Situation auf einen religiösen Trip verfallen?
Sie hatte keinen christlichen oder auch nur allgemein religiösen background, jedenfalls war ihm in seiner gesamten Kindheit und Jugendzeit nichts davon bekannt geworden. Er wusste auch nicht, wann sie sich überhaupt damit hätte beschäftigen sollen. Mit ihren beiden kleinen Kindern dem untreuen Partner aus Jugoslawien ins fremde Deutschland entflohen, hatte sie die folgenden Jahrzehnte bis zur Rente nur mit Arbeit, Arbeit und noch einmal Arbeit verbracht. Braig konnte sich nicht erinnern, seine Mutter einmal für längere Zeit zu Hause an seiner Seite erlebt zu haben, selbst samstags und sonntags war sie in verschiedenen Gaststätten und Hotels zugange gewesen, um Geld zu verdienen und ihren beiden Kindern einen angemessenen Lebensunterhalt und eine bessere Ausbildung zu ermöglichen.
Engagements außerhalb ihrer Arbeit waren da von der Zeit, zudem auch von ihrer Erschöpfung her vollkommen unmöglich. Braig konnte sich nicht vorstellen, wie seine Mutter jetzt auf diese religiöse Idee verfallen war.
»Woher hast du sie?«, fragte er, mit den Augen auf die in üppigen Farben glänzende Statue deutend. Sie war so billig hergestellt, wahrscheinlich irgendwo in Taiwan, Thailand oder Indonesien, – eine dickwangige, von einem goldenen Heiligenschein gekrönte Maria mit dem Jesuskind auf dem Arm, – unter normalen Umständen wohl nur peinlicher Kitsch. Die religiösen Bedürfnisse seiner Mutter mussten riesengroß sein, wenn sie sich diese Figur zumutete.
»Direkt von ihr«, flüsterte sie, »ich war dabei, als sie erschien.«
Braig schüttelte den Kopf, zwang sich, ruhig zu bleiben. Sie war seine Mutter, hatte seine Nachsicht verdient, auch wenn es ihm schwer fiel.
»Wo war das?«, fragte er, gezwungen höflich.
»In Marpingen. Dreimal schon. Wir fahren mit einem ganzen Bus, alle vierzehn Tage.«
Braig brauchte einige Sekunden, den Schock zu verdauen. Marpingen, er hatte es irgendwann in den letzten Wochen in den Nachrichten erfahren. Menschenaufläufe in einem kleinen Dorf im Saarland, um die Mutter Gottes zu erleben. Drei junge Frauen, die als Verbindungsglieder auftraten und die Wünsche und Anweisungen Marias entgegennahmen. Irgendeine katholische Gruppierung, welche die alte Mutter-Gottes-Verehrung wieder in die Köpfe der Bevölkerung pflanzen wollte. Zu Tausenden kamen Gläubige aus allen Regionen Deutschlands, um die angeblichen Erscheinungen live mitzuerleben.
»Sie hilft, ich spüre es jeden Tag.«
»Das ist schön, Mama.«
»Dir auch, immer.«
»Sehr gut. Es freut mich.«
Er hatte kein Recht, sie anzuschreien, ihr klarzumachen, was er von dem absurden Spuk hielt. Es war ihr Leben, ihre Entscheidung. Sie hatte weiß Gott nicht allzu viel Schönes hinter sich. Sollte sie sich doch in dieser Traumwelt bewegen, sofern es ihr etwas brachte.
»Ich habe etwas ganz Besonderes für dich.«
Braig sah, wie ihre Augen leuchteten. Es schien, als habe sie eine neue Lebensaufgabe gefunden.
Seine Mutter sprang vom Sofa auf, lief zu ihrer Vitrine, öffnete sie, kehrte mit einer kleinen
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