Schwaben-Wut
schnelle Reaktion des Mannes.
»Allerdings weiß ich das. Ich musste eigens seinetwegen anhalten. Es regnete wie verrückt, die Wiesen neben den Schienen standen unter Wasser. Wie kann man nur so verrückt sein, hier auszusteigen, dachte ich, bei dem Wetter. Wer will da raus? Dann sah ich ihn als einzigen auf den Bahnsteig treten, als ich in den Rückspiegel blickte.«
»Und wo war das?«, fragte Braig neugierig.
Neundorf verfolgte das Gespräch aufmerksam.
»Bad Urach-Wasserfall«, erklärte der Lokführer, »mitten in der Pampa.«
»Wasserfall?«
»Ja, und der Typ lief auch in die Richtung dorthin. Nicht etwa nach Urach zu den Kliniken, sondern voll auf die andere Seite. Der ist verrückt, dachte ich. Der Himmel öffnet seine Schleusen und der hat nichts Besseres zu tun als zum Wasserfall zu latschen. Als ob er nicht schon nass genug wäre. Und genau in dem Moment zuckten auch noch Blitze ganz in der Nähe.«
»Sie sind absolut sicher, dass es sich um die Person handelte, die in Dettingen-Freibad zugestiegen ist?«
Der Lokführer schien beleidigt. »Ich weiß nicht, was ich noch alles berichten muss, damit Sie mir glauben. Aber bisher bin ich noch nie Gespenstern aufgesessen. Menschenskind, ich habe dem Kerl am Wasserfall noch nachgestarrt, bis er vollends im Regen verschwand. So, jetzt muss ich aber aufhören, wir kommen in Reutlingen an.«
Braig bedankte sich.
»Ich denke, wir müssen es probieren«, sagte Neundorf, »die Ortsausgänge von Dettingen bleiben weiterhin bewacht, aber eine Truppe von etwa zehn Mann kommt mit uns zum Wasserfall.« Sie wandte sich an den uniformierten Kollegen. »Könnten Sie uns so viele ortskundige Beamte vermitteln?«
Der Polizeihauptwachtmeister nickte, gab seine Order per Handy durch. »Wir treffen uns an der Straße am Bahnübergang.«
Neundorf und Braig folgten dem Streifenwagen, hatten den Haltepunkt nach wenigen Kilometern erreicht. Die Landschaft präsentierte sich von ihrer schönsten Seite. Das über und über grüne Tal der Erms wurde auf beiden Seiten vom üppig bewaldeten Steilanstieg der Schwäbischen Alb flankiert. Hoch über ihnen die Mauern der mittelalterlichen Burgruine Hohenurach, von der aus der Pass auf die Höhen des schwäbischen Kalkgebirges überwacht worden war. Der Wind hatte fast alle Wolken vertrieben, nur kleine, milchig-weiße Gebilde unterbrachen ab und an das kräftige Blau, vermochten aber die Kraft der Sonnenstrahlen kaum zu beeinträchtigen.
Braig atmete die frische Luft, hörte das laute Gurgeln des fast bis an den Rand gefüllten Baches, der vom Wasserfall her in die Erms floss.
Der uniformierte Kollege gab seine Anweisungen, um die Umgebung schnell und systematisch zu durchkämmen, trat dann zu Neundorf und Braig. »Rings um den Wasserfall befinden sich einige Hütten. Vielleicht will er sich dort verstecken. Oder in der Burg. Wahrscheinlich spekuliert er darauf, dass nach diesem Regenguss heute wohl keine Wanderer mehr unterwegs sein werden.« Er zeigte nach oben. »Wir müssen auf jeden Fall alles durchsuchen. Ich habe unsere Leute eingeteilt. Am besten, Sie kommen mit uns.«
Sie fuhren etwas mehr als einen Kilometer am Waldrand entlang, stellten die Fahrzeuge dann ab, marschierten auf einem vorbildlich ausgeschilderten Weg geradewegs in den Wald, anfangs weitgehend eben, dem Bett eines Baches folgend, stieg er dann immer steiler in die Höhe. Braigs und Neundorfs Schuhe waren nach wenigen Minuten völlig durchweicht. Die Erde, das Laub, selbst der teilweise mit kleinen Steinen befestigte Weg glichen sumpfigem Gelände. Jeder Schritt ließ die Schuhe einige Zentimeter tief im Boden versinken. Morast und Geschmiere überall, wohin sie auch traten.
Dazu kam die Feuchtigkeit der Vegetation. Von den Bäumen perlten unablässig Wassertropfen, bei entsprechenden Windböen ganze Fontänen. Von oben, von vorne, von den Seiten. Alles troff vor Nässe. Binnen einer Viertelstunde waren sie nass bis auf die Haut.
Steil ansteigendes Gelände mit lichtem Wald, ein laut gurgelnder Bach, würzige, von unzähligen Kräutern aromatisierte Luft. Dann teilte sich das Wasser, floss in Strömen über unzählige abgerundete Steinblöcke, üppig grüne Moosteppiche, von dichten Grasmatten überwucherte Felsbrocken. Tausend Bäche und Rinnsale überall. Das Wasser gurgelte, spritzte, schoss über alles hinweg. Bäume ragten himmelhoch, auf den Zweigen hüpften Vögel, schmetterten – fast unhörbar unter dem Rauschen des Wassers – ihre
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