Schwaben-Wut
Kampflieder.
Braig kämpfte auch, nämlich gegen seine Müdigkeit, nahm die Pracht der Landschaft vor Erschöpfung nur teilweise wahr.
Plötzlich standen sie direkt unter dem Wasserfall. Braig schlingerte über nasse Steine, suchte sicheren Halt für die Füße, blieb dann stehen, starrte nach oben. Der Anblick war atemberaubend.
Hier stürzte das Wasser aus einer Höhe von etwa fünfzehn Metern in freiem Fall nach unten, verteilte sich hier nach allen Seiten und schoss, gurgelte, plätscherte über grünbewachsene Felsen inmitten des lichten Laubwalds. Eine fast unwirkliche Kulisse, zauberhaft, überwältigend, wie in einem gigantischen, die Schönheiten der Natur propagierenden Hollywood-Film.
Braig spürte das Pochen seines Herzens, die Schmerzen in seinem Kopf, wusste, dass er an einem anderen Tag hierher kommen würde, um alle Reize der Landschaft voll auszukosten. Neundorf stand unmittelbar vor ihm, die Hände in die Hüften gestemmt, heftig um Luft ringend. Sie drehte sich um, sagte ein paar Worte, einen Satz, – er wusste nicht, was. Ihre Lippen bewegten sich, der Laut ihrer Stimme ging im Getöse des Wassers unter. Sich ohne stimmbandschädigendes Schreien zu unterhalten, war unmöglich.
Braig deutete auf seine Ohren, dann auf den Wasserfall, schüttelte den Kopf. Die Kommissarin lachte, lief vorsichtig weiter. Er atmete tief durch, massierte seine Schläfen, spürte, wie sich sein Puls beruhigte.
Der Anstieg bis zum Scheitelpunkt des Wasserfalls war steil. Minuten später hatten sie jedoch den zu einem Aussichtspunkt hergerichteten Felsen erreicht. Bänke, eine auf den Platz hin ausgerichtete Hütte, eine eingerahmte Feuerstelle gaben Wanderern Gelegenheit, sich auszuruhen.
Wie sie auf den Mann stießen, der wenige Meter waldeinwärts direkt vor ihnen auftauchte, konnte später niemand mehr erklären. Braig erinnerte sich nur noch, wie er halb betäubt vor Erschöpfung kaum hundert Meter vom Rastplatz entfernt einen Felsen umrundete, Neundorfs Kopfschütteln angesichts der beiden in unmittelbarer Nähe ungeniert pinkelnden Kollegen vor sich, als die völlig durchnässte Gestalt um die Ecke kam. Als der Mann die Uniformen der Polizeibeamten endlich bemerkte, war ihm der Rückweg in den Wald bereits abgeschnitten: Vor und neben ihm die Verfolger, zu seiner Rechten der steile Abgrund.
Wahrscheinlich war er aufgrund der schlaflos und in höchster Nervenanspannung verbrachten Nacht so erschöpft, spekulierten später die Polizeipsychologen, dass er sich der fatalen Konsequenz seiner Handlung in keiner Weise bewusst war. Auf Neundorfs laut geschrieene Aufforderung hin, stehen zu bleiben und keine Gegenwehr zu leisten, sprang er plötzlich wie von tausend Teufeln getrieben auf den Abgrund zu und schwang sich in atemberaubender Schnelligkeit über den gerade mal einen Meter hohen Sicherheitszaun. Bevor auch nur einer der Beamten reagieren konnte, war er mit einem lauten Schrei in der Tiefe verschwunden.
27. Kapitel
Steffen Braig wurde am Samstagmorgen erst durch das Läuten des Telefons kurz nach neun Uhr wach. Er holte tief Luft, griff nach dem Hörer, hatte die Stimme Barbara Sorgs am Ohr.
»Wie geht es dir?«, fragte sie.
Braig schob die Decke zur Seite, massierte seine Schläfen, kam langsam zu sich.
»Na ja«, brummte er, »wenn ich jetzt schon wieder anfange zu jammern ...« Er hielt den Hörer von sich, hustete. »Trotzdem«, fuhr er fort, »es war schon etwas viel in den letzten Tagen.«
Er dachte an den Moment zurück, als der zertrümmerte Schädel Greilings in Backnang vor ihm lag. Dann die Bilder aus Frankreich, der entstellte Kopf Bartles am Rand des Weinbergs.
Wieder etwas später die Leiche Harfs vor dem Favoriteschloss in Ludwigsburg. Bernhard Söhnles erschöpfter Zustand, als sie ihn aus dem Kofferraum befreit hatten. Und dann, als Krönung, die völlig zerschmetterte Leiche Merz’ auf einem grün überwucherten Felsen unmittelbar neben der Stelle, wo der Bad Uracher Wasserfall auf den Boden traf. Der blutende Überrest aus Fleisch und Knochen mitten in der landschaftlich grandiosen Szenerie, die er Minuten vorher trotz seiner Erschöpfung noch bewundert hatte.
»Ihr sucht den Kerl immer noch?«, fragte Barbara Sorg.
»Welchen Kerl?«
»Diesen Stecher.«
Braig seufzte laut, dachte an die Mühen der letzten Tage. »Ja. Leider.«
»Dafür habt ihr den anderen. Es steht groß in der Zeitung. Am Bad Uracher Wasserfall.«
Sie hatten nach einem Arzt telefoniert, die notwendigen
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