Schwaben-Wut
zu spekulieren, um nach einem zu erwartenden Misserfolg nicht noch enttäuschter zu sein.
Ulrich Hinderer war ein freundlicher junger Mann mit dunkelbraunen Locken und kräftiger Statur. Er empfing Braig im Haus seiner Eltern mitten in Backnang, führte ihn ins Wohnzimmer, das eine großzügige Sitzlandschaft vor einer mächtigen Bücherwand präsentierte. Braig überflog die Titel und Autoren der Bücher, bemerkte, dass der Schwerpunkt auf religiöser Literatur lag.
»Darf ich Ihnen etwas zum Trinken anbieten?«, fragte der junge Mann.
Braig nahm ein Mineralwasser, bedankte sich. »Sie waren unterwegs in den letzten Tagen?«, fragte er.
Ulrich Hinderer nickte. »Mit einer Gruppe Behinderter. Eine Woche lang am Bodensee. Wir hatten gutes Wetter, bis auf gestern. Kurz vor unserer Abfahrt setzte ein wahrer Wolkenbruch alles unter Wasser.«
»Oh ja«, bestätigte Braig, »das war hier nicht anders. Es schüttete mehrere Stunden lang.« Er dachte an ihre Fahrt nach Dettingen, an den im Regen verschwundenen Fluchtwagen.
»Dafür hatten wir die ganze Woche durch nur Sonne. Die Leute konnten am Strand spielen, sich frei bewegen, zweimal sogar baden.«
»Sie leisten Ihren Zivildienst?«
Ulrich Hinderer nickte. »Seit vergangenen Oktober. Drei Monate nach dem Abitur fing ich an. Es macht Spaß. Und ist sinnvoll. Die Behinderten sind froh über jeden, der hilft.«
»Unter welcher Art von Behinderung leiden die Leute?«
»Das ist verschieden. Die Gruppe, mit der ich unterwegs war, setzt sich vor allem aus Spastikern und Mongoloiden zusammen. Sie helfen sich gegenseitig. Einige sitzen im Rollstuhl, können sich kaum oder überhaupt nicht bewegen. Wir müssen uns eigentlich nur um die Organisation und die Durchführung des geplanten Ablaufs kümmern, für die meisten anderen Arbeiten sorgen sie selbst.«
»Sie waren in einem speziellen Haus untergebracht?«
»In einem Erholungsheim der Diakonie. Es ist für die Unterkunft Behinderter eingerichtet. Ebene Wege statt Treppen, breite Aufzüge, Behindertentoiletten. Das Leben könnte für sie viel einfacher sein, wenn öffentliche Einrichtungen nur ein Stück weit auf sie Rücksicht nehmen würden.«
»Andreas Stecher haben Sie schon länger nicht mehr gesehen?« Braig kam ohne jede Vorankündigung auf das Thema zu sprechen, dessentwegen er hierher gekommen war. Er beobachtete die Reaktion des jungen Mannes genau, wollte ihm keine Chance geben, ihn zu belügen.
Ulrich Hinderer sah ihm offen ins Gesicht, zögerte keine Sekunde mit seiner Antwort. »Vor vier Wochen zum letzten Mal. Ich besuche ihn so alle drei, vier Monate in Schwäbisch Hall, je nachdem, wie ich Zeit finde.«
»Sie sind miteinander befreundet?«
Der junge Mann nickte ohne jeden Einwand mit dem Kopf. »Seit der achten Klasse, ja. Wir haben viel zusammen unternommen.«
»Wo ist er jetzt?«
Ulrich Hinderer lachte, schüttelte den Kopf. »Das soll wohl ein Witz sein? Wer ist der Polizist von uns beiden, der über die Informationen verfügt?«
»Wir haben keine Informationen über seinen Aufenthalt.«
»Glauben Sie etwa, ich?«
»Ich hatte es gehofft!«
Der junge Mann stand auf, holte ein großes Buch von einem der Regale, legte es auf den Tisch. Braig sah, dass es ein Fotoalbum war.
»Ich dachte, das könnte Sie interessieren«, erklärte Hinderer, »Aufnahmen, die Andreas zeigen.«
»Sie haben ihn in der Schule kennen gelernt?«
»Wir waren seit der fünften Klasse zusammen. Freunde sind wir seit dem Aufenthalt im Schullandheim. Hier.« Er zeigte auf ein Foto, das zwei Jungen mit vollbepackten Fahrrädern zeigte. »Unsere erste Radtour. In den Schwarzwald zu meiner Tante. Die hat dort einen Bauernhof. In der Nähe von Alpirsbach. Andreas war total begeistert. Er wäre jedes Mal am liebsten dort geblieben.«
»Sie waren öfter dort?«
Ulrich Hinderer blätterte einige Seiten weiter, zeigte auf Fotos mit einem Heranwachsenden, der den Fahndungsbildern Stechers mit zunehmendem Alter immer mehr ähnelte. »Oft ist gut. Manchmal an jedem zweiten Wochenende. Samstagmorgens mit dem Zug hin, sonntagabends wieder zurück. Andreas war vernarrt in die Tiere auf dem Hof.«
Braig betrachtete die Bilder, schüttelte den Kopf. »Das ist alles Andreas Stecher?«
Natürlich war er es, die Gesichtszüge, die Körperhaltung, die Augen, der Mund, alles war mit den Fahndungsbildern identisch. Dennoch sträubte sich jede Faser seines Körpers zu glauben, was er vor sich sah. Ein freundlicher Junge beim Streicheln
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