Schwaben-Wut
ab. »Ist schon gut, ist ja normal so.« Sie wusste, wie gründlich Rössle arbeitete, wollte ihn nicht kritisieren. Er hatte den halben Samstagnachmittag in der Hütte bei Wäschenbeuren verbracht. Die Schwellung über seinem rechten Lid glänzte.
»Was ist mit deinem Auge?«, fragte Braig.
Rössle winkte ab. »Das war a Bien.«
Braig wusste, dass der Kollege einen eigenen Bienenstand betrieb.
»Und jetzt?«
Es gab keinen weiteren Ansatzpunkt. Robert Keuerles Beteuerungen vom Tod seines Freundes Fredi, der ihm den Kontakt zu den Mietern der Hütte verschafft hatte, waren korrekt. Sie hatten die Sache überprüft, waren von den Kollegen der Verkehrspolizei über den am 17. Juni bei einem Autounfall tödlich verunglückten Ferdinand Polzer informiert worden.
Dass Keuerle trotz seiner aufgeregten Bekundungen in die Angelegenheit verwickelt war, schloss Braig mit neunzigprozentiger Sicherheit aus. Soviel Urteilskraft billigte er sich aufgrund seiner jahrelangen beruflichen Praxis inzwischen zu. Der Wirt hatte die Miete sechs Monate lang übernommen, seither waren die Überweisungen durch Bareinzahlungen in verschiedenen Stuttgarter Banken erfolgt – soviel hatten Neundorfs Nachforschungen bereits ergeben. Nicht ein Argument, das gegen die Ausführungen Keuerles sprach.
»Wierandt«, erklärte Neundorf, »unsere einzige Chance. Du gehst mit?«
Fünfundzwanzig Minuten später standen sie vor dem hohen Stacheldrahtzaun im Plochinger Neckarhafen. Die Gegend hatte sich seit Neundorfs letztem Besuch am Montagmorgen nicht verändert. Lagerhäuser ohne jeden Charme, Berge aus Alteisen und Plastik, menschenleere Straßen, dazu der Gestank von brackigem Wasser und giftigem Müll, nicht ganz so intensiv wie am Anfang der Woche, aber heftig genug. Braig verzog angewidert sein Gesicht, als ihm der ekelhafte Geruch in die Nase stieg.
Neundorf zog ihr Handy, wählte Philipp Wierandts Nummer. Der Mann war auf der Stelle am Apparat.
»Gehts los?«, rief er, außer Atem.
»Sofort«, antwortete Neundorf.
Wierandts Misstrauen erwachte augenblicklich. »Wer sind Sie?«, fragte er.
»Wir stehen direkt vor Ihrer Haustür.«
Neundorf hörte für einen kurzen Moment noch das heftige Schnaufen am anderen Ende, dann wurde die Verbindung unterbrochen. Sie zog ihre Waffe, bat Braig, diese Seite des Zauns zu überwachen, spurtete ans andere Ende. »Ich fürchte, der will abhauen.«
Sie rannte die holprige Straße entlang, spürte den üblen Gestank. Hinter dem Zaun ragten Berge von verbeulten Autowracks in die Höhe. Irgendwo, ein Stück entfernt, bellte ein Hund, weiter weg brummten Motoren.
Neundorf erreichte gerade das Ende des Stacheldrahtzauns, als sie die kleine gedrungene Gestalt durch eine schmale Öffnung auf die Straße huschen sah. »Stehen bleiben oder ich ...«
Der Mann reagierte nicht, rannte weiter. Sie riss die Pistole hoch, schoss in die Luft. Wierandt stoppte augenblicklich.
Neundorf lachte verächtlich. »Die nächste Kugel hätte getroffen. Herr Wierandt, ja?«
Der Mann nickte, streckte ihr seine Hände entgegen.
Neundorf winkte ab. »Lassen Sie den Schwachsinn. Wir gehen in Ihr Haus. Aber jeder Fluchtversuch ...«
»Ja, ja, ja«, brummte Wierandt, »für wie blöd halten Sie mich?«
Braig kam um die Ecke, sah, dass sie die Situation unter Kontrolle hatte.
»Wir suchen Stecher«, sagte Neundorf, »wo halten Sie ihn versteckt?«
»Ich?« Philipp Wierandt blieb wie erstarrt auf der Stelle stehen, starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an. »Glauben Sie, ich bin verrückt?« Er schüttelte den Kopf. »Letzte Woche waren Sie schon hier, haben alles auf den Kopf gestellt, wie mein Bruder erzählte, die Bullen im ganzen Ländle sind hinter dem Kerl her und da glauben Sie, ich hätte nichts Besseres zu tun als ihn hier zu verstecken?«
»Nicht hier. Woanders. Und wo genau, das will ich wissen.«
Wierandt ließ sich theatralisch auf den Boden fallen. »Mein Gott, Frau Kommissar.« Er wusste nicht, wie er sie ansprechen sollte, faltete die Hände wie zum Gebet. »Was halten Sie von mir?«
»Nicht viel«, brummte Neundorf, leise zwar, aber doch laut genug, dass er es verstehen konnte. Sie gab ihm einen Stoß, zeigte auf das Tor. »Los jetzt. Ersparen Sie uns den Quatsch.«
Wierandt erhob sich schwerfällig, führte sie zum Eingang. Er hatte lange, dunkel getönte Haare, ein breites Gesicht. Die Ähnlichkeit mit seinem Bruder war trotz der unterschiedlichen Frisur nicht zu übersehen.
»Wirklich! Stecher –
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