Schwaben-Zorn
drückte sie ans Gitter, tastete ihre Hose ab. Sie schrie laut auf, versuchte die Japaner auf sich aufmerksam zu machen, sah die erschrockenen Blicke des Paares. »Hilfe«, kreischte sie, »bitte …«
Der Mann schob sie gewaltsam zur Seite, hielt ihr die Hand über den Mund, drückte ihren Kopf nach hinten. Sie versuchte sich ihm zu entwinden, kam für Sekundenbruchteile wieder nach oben, sah das fremde Paar gerade noch im Eiltempo im Treppenhaus verschwinden. Ihre Wangen, von den Verletzungen der Nacht ohnehin noch lädiert, brannten wie Feuer. Sie hatte höllische Schmerzen, spürte die Tränen, die ihr aus den Augen rannen. Es hatte keinen Sinn, länger Widerstand zu leisten. Selbst wenn die Japaner Hilfe holen sollten, konnte der Verbrecher sie längst erledigt haben. Mit dem Kerl war nicht zu spaßen.
Sie wehrte sich nicht mehr, als er in ihre Hosentasche griff und nach dem Paket tastete. Er zog es gierig heraus, legte es auf dem Boden ab, packte sie erneut an ihrer Jacke, schob sie ein, zwei Meter weiter, direkt am Gitter entlang. Vor Überraschung gelähmt, leistete sie keinen Widerstand. Sie sah, wie der Mann in seine Hose griff, ihr ein Messer oder ein ähnlich großes Werkzeug entnahm und sich dann am Gitter zu schaffen machte. Sie ahnte, was er vorhatte, sah seine emsigen Bemühungen, mit denen er an einer der Metallstreben schraubte. Plötzlich ertönte unten, irgendwo in der Stadt, eine schrille Sirene. Sie starrte durch die Gitterstäbe hindurch, hatte nur dichte Nebelschwaden vor Augen. Das Geräusch in der Tiefe schwoll an, steigerte sich zu einem nervenaufreibenden Heulen. Lisa lauschte, hörte, wie sich die Sirene durch die engen Straßenschluchten bewegte. Bremsen quietschten, Autofahrer hupten in nervösem Stakkato. Dann erlosch die Sirene im Bruchteil einer Sekunde.
War das Auto im Wagenburgtunnel verschwunden? Sie kam nicht dazu, sich länger damit zu beschäftigen, weil ein neues Geräusch in ihre Ohren drang. Ein ohrenbetäubendes Quietschen in ihrer unmittelbaren Nähe. Erschrocken starrte sie zur Seite, sah, wie der Mann einen Teil des Metallgitters öffnete.
Sie begriff sein tödliches Unterfangen in dem Moment, als das Tor nach innen schwang und der dunkle Abgrund direkt vor ihr gähnte. Er packte sie an ihrer Jacke, schob sie zu dem neu geschaffenen Loch. Stuttgarts Innenstadt lag zu ihren Füßen. Vierzig, fünfzig Meter tiefer. Sie begann zu schreien.
9. Kapitel
Rebekka Bangler war eine auffallend schlanke, junge Frau mit bleicher Gesichtsfarbe und großen, dunklen Augen. Braig hatte sich telefonisch bei ihr vorgestellt und sie mit der Bemerkung, ihre Schwester habe einen Unfall erlitten, um einen schnellen Termin gebeten.
»Einen Unfall?«, hatte sie sofort gefragt. Der besorgte Tonfall ihrer Stimme war nicht zu überhören gewesen.
»Ich bin in zwanzig Minuten bei Ihnen.«
Sie hatte keinerlei Einwände dagegen erhoben, erwartete Braig in dunkelblauer Dienstmontur: Jacke, Hose, dazu helle Sportschuhe. Der Raum, in den sie ihn führte, war äußerst spärlich möbliert: Ein quadratischer Tisch mit grünen Metallbeinen, zwei dazu passende, unbequeme Stühle, ein Plakat an der Wand: Kein Alkohol während der Arbeitszeit.
Wenn das unser einziges Problem wäre, überlegte Braig, mein Leben wäre ein Traum.
»Was ist mit Christina?« Rebekka Bangler hatte ihn sofort bei seinem Eintreffen mit der Frage konfrontiert, wiederholte sie jetzt mit besorgter Miene, nachdem er sich genau vorgestellt und ausgewiesen hatte.
Er zögerte mit seiner Antwort, wollte ihr erst noch ein paar Informationen entlocken. »Sie war unterwegs, gestern Abend.«
Die junge Frau nickte.
»Sie wissen mit wem?«
»Christina traf sich mit Corinna, einer Klassenkameradin von früher. Sie haben sich seit dem Abitur nicht mehr gesehen.«
»In Stuttgart?«
»Das hatten sie vor, ja. Corinna studiert Biologie in Hohenheim. Sie wohnt, glaube ich, in Birkach. Was ist denn jetzt mit Christina?«
»Sie kennen diese Corinna näher?«
»Ja, klar. Ich war in derselben Schule: das Georg-Büchner-Gymnasium in Winnenden. Nur zwei Klassen unter den beiden. Wir gingen gerne hin, die Atmosphäre stimmte.«
Braig ließ sich den vollen Namen, die Adresse und Telefonnummer Corinna Fischers geben. »Haben Sie sich nicht gewundert, dass Christina heute Nacht nicht nach Hause kam?«
Rebekka Bangler schüttelte den Kopf. »Christina hat heute ihren freien Tag. Sie sagte, sie wolle bei Corinna übernachten. Die hat eine kleine
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