Schwaben-Zorn
fast immer die, die ohnehin schon Opfer ihrer Umgebung geworden waren.
Er spürte, wie die Kälte in seinen Nacken kroch, schlang sich den Schal fester um seinen Hals. Nur jetzt nicht krank werden, überlegte er, nicht auch noch das.
Er griff in seine Tasche, tastete nach Handschuhen, merkte, dass er sie heute Morgen, in der Hektik des Aufbruchs, im Schrank vergessen hatte. Wütend hüllte er sich in seine Jacke. Die nasskalte Witterung bekam weder seiner Seele noch seinem Leib.
Auf der anderen Seite des Bahnhofs fuhr ein Zug Richtung Backnang ein. Braig sah mehrere Reisende hastig zu den Türen eilen, beobachtete eine schlanke Frau, die in einen dünnen Mantel gehüllt aus dem Zug stieg. Von der Silhouette her erinnerte sie ihn an Rebekka Bangler. Sofort hatte er wieder das bleiche Gesicht der jungen Frau vor Augen.
Welcher Zukunft ging sie entgegen? Hatte sie Chancen, sich von den albtraumhaften Geschehnissen ihrer Kindheit und Jugend zu befreien? Er dachte an die Worte Michaela Schneitters, wusste, dass er nicht darum herum kam, sich Robert Bangler noch einmal vorzunehmen. Er wolle sie »vom Weg des Verderbens« wegholen, hatte sie den Mann zitiert, aus den »Klauen des Satans« befreien. War Christina Bangler diese Verkörperung des Satans gewesen, die ihre Schwester auf den Weg des Verderbens geführt hatte? Dann gab es einen triftigen Grund, weshalb sie einem solchen Gewaltausbruch zum Opfer gefallen war.
Braig zog das Blatt mit der Telefonnummer Banglers heraus, versuchte es bei der Versicherung. Trotz des Todes seiner Adoptivtochter war er immer noch in seinem Büro. Braig erklärte dem Mann, dass er ihn noch einmal sprechen müsse.
»Wieso das?«
Er gab keine Antwort, schaute auf die Uhr, die vor ihm über dem Bahnsteig hing. Zehn vor vier.
»In einer halben Stunde«, erklärte Braig, »bei Ihnen im Büro.«
Bangler wagte nicht zu widersprechen, legte grußlos auf.
Plagte ihn sein schlechtes Gewissen? Oder war ihm der Tod seiner Adoptivtochter nicht einmal die Zeit wert, die ihm ein erneutes Gespräch mit der Polizei abverlangte?
Braig spürte förmlich die Antipathie, die er dem Mann gegenüber empfand. Er wollte ihm nicht mehr allein gegenübertreten, überlegte, wen er im Amt als Verstärkung anfordern konnte.
Neundorf war krank, Felsentretter auf Fortbildung wegen irgendwelcher neuer effizienterer Fahndungsmethoden, Beck und Wintterlin jagten seit Tagen einer internationalen Bande hinterher, die Luxuskarossen in andere Länder verfrachtete. Ihre Abteilung war hoffnungslos unterbesetzt, jeder Einzelne von ihnen schob Überstunden in einem Ausmaß vor sich her, das irgendwann einmal monatelangen Zwangsurlaub versprach, falls sie je dazu kamen, die Zeit abzufeiern. Er wusste von Kollegen, dass es in anderen Sektionen des LKA und in den meisten Landespolizeidirektionen nicht anders aussah. Kein Geld für neues Personal, verlautete es ständig aus den Kreisen der zuständigen Politiker. Sollte sich bis zur Erschöpfung verausgaben, wer so dumm war, im operativen Bereich der Polizei des Südwestens zu arbeiten. Aber Milliarden für ständig neue Straßen in allen Ecken des Ländles, für gigantomanische Wahnsinnsprojekte wie Olympia-Bewerbung, neue Landesmesse oder einen unter die Erde verlegten Stuttgarter Hauptbahnhof waren trotz aller finanziellen Probleme immer vorhanden.
Braig schüttelte den Kopf, verzichtete auf den Anruf im Amt. So sehr er es verabscheute, er musste dem Mann wieder allein gegenübertreten.
* * *
Robert Bangler ließ seinen Besucher deutlich spüren, was er von seinem erneuten Vorsprechen hielt. Mit mürrischer Miene bot er ihm einen Stuhl an, blieb regungslos hinter seinem breiten Schreibtisch sitzen. Die grauen Stoppelhaare glänzten im Licht der grellen Deckenlampe, sein breites Gesicht war rot angelaufen. Auf der Stirn zeigten sich einzelne Schweißperlen.
Braig überlegte, ob der Mann durch sein erneutes Auftauchen beunruhigt war oder den Tod seiner Adoptivtochter doch nicht so leicht wegsteckte, wie er es ihm weiszumachen versucht hatte – weshalb auch immer.
»Christinas Tod hat Sie getroffen?«, fragte er.
Robert Bangler reagierte leicht gereizt. »Darüber haben wir uns heute Morgen schon unterhalten.«
»Ich wundere mich nur, dass Sie sich immer noch in Ihrem Büro aufhalten. Benötigt Ihre Frau keinen Trost?«
»Das ist unsere eigene Angelegenheit. Ich glaube nicht, dass ich der Polizei gegenüber zur Rechenschaft über den Zustand meiner Ehe verpflichtet
Weitere Kostenlose Bücher