Schwaben-Zorn
sei diese noch am Leben.
»Robert Bangler hält Christina für die eigentlich Verantwortliche«, hielt Braig fest. »Und Rebekka ist seiner Ansicht nach nur deshalb auf den falschen Weg geraten, weil ihre ältere Schwester sie dazu verleitet hat?«
»Auf jeden Fall. Christina ist«, sie schluckte, verbesserte sich dann, »war die Böse. Der Satan hat sie als Lockvogel auserkoren. Und Rebekka ist ihr voll auf den Leim gegangen, genauso wie Eva, die sich im Paradies von der Schlange verführen ließ. Das sind seine Worte, nicht meine.«
Braig starrte auf den Stuhl neben sich, versuchte sich vorzustellen, was hier vor wenigen Wochen geschehen war. Robert Bangler, der fromme Heilige, außer sich vor Wut. Hass auf das angeblich lasterhafte Leben seiner Töchter. Wochenlang aufgestauter Frust in seinem Inneren, Rebekka, die Abtrünnige, vor ihm. Besinnungslos vor Wut hatte er sie gepackt, ihr die Hände um den Hals gelegt.
Braig dachte an seinen Besuch bei der Versicherung, versuchte sich den Körperbau Banglers in Erinnerung zu holen. Der Mann war kräftig, ohne Zweifel. Ein gefühlsmäßig schnell außer Kontrolle geratender, vielleicht gar jähzorniger Typ?
Nach allem, was er bisher gehört hatte, leicht möglich. Nicht auszudenken, was passiert wäre, hätten die anderen Bewohnerinnen der WG nicht den Raum betreten.
War der Mann heute Nacht in Streit mit seiner älteren Tochter geraten? Braig hatte das Bild der Ermordeten deutlich vor Augen. Die bis zur Unkenntlichkeit zerkratzten Wangen, das seltsam verrenkte, völlig zertrümmerte Kinn. »Da hat sich einer in einen wahren Blutrausch gesteigert«, hatte der Arzt formuliert, »ein eifersüchtiger Liebhaber vielleicht.«
War Robert Bangler dieser Mann? Der eifersüchtige, verlassene Liebhaber?
Nicht im körperlichen, sexuellen Sinn, wohl aber im psychischen. Hatte er seine ältere Tochter als die in seinen Augen für das Zerbrechen seiner Familie Hauptverantwortliche zur Rechenschaft gezogen, für ihre schlimme Tat bestraft?
Braig wusste, was nun folgte, auch wenn er sich noch so sehr dagegen sträubte. Er musste Rebekka Bangler aufsuchen und sie wegen der Ereignisse der letzten Wochen befragen und sich dann erneut ihren ehemaligen Adoptivvater vornehmen, so wenig Sympathie er dem Mann auch entgegenbrachte. Mörder waren im Allgemeinen nun mal keine sonderlich sympathischen Existenzen.
8. Kapitel
Lisa Neumann stand wie erstarrt inmitten der Menschenmenge, stierte mit ungläubigen Augen auf den Mann vor sich. Mit allem hatte sie gerechnet, nicht jedoch mit dieser unverblümten Attacke. Kreuz und quer war sie durch den Bahnhof gerannt, hatte sich blitzschnell umgedreht, die Umgebung abgesucht, nichts Auffälliges entdeckt, sich stattdessen von Minute zu Minute sicherer gefühlt. Und jetzt stand er plötzlich, wie aus dem Boden gewachsen, direkt vor ihr.
»Den Umschlag!«, zischte er.
Sie starrte auf den Lauf einer Pistole, die zwei, drei Zentimeter weit aus seiner Jacke ragte, sah das nervöse Zucken seiner Hand, mit der er die Waffe hin und her bewegte. Links und rechts eilten Menschen an ihr vorbei, startende Züge oder einen der vielen Läden des Bahnhofs als Ziel. Gab es eine Chance, dem Mann zu entkommen?
Es schien, als habe er ihre Gedanken erraten. »Los, her damit!«
Seine Bewegungen wurden hastiger, die Stimme aggressiver. Der Lauf der Pistole schwankte hektisch auf und ab. Der Mann drohte die Kontrolle über sich zu verlieren.
Lisa schaute auf, blickte mitten in sein Gesicht. Schmale, verschlagene Augen. Das rechte Lid zuckte nervös, zwei tiefe Falten auf der Stirn unterstrichen seinen gewalttätigen Ausdruck. Der Typ schien zu allem fähig: ein Risiko einzugehen, viel zu gefährlich.
Sie verlor jeden Gedanken an Gegenwehr, griff in ihre Hosentasche, tastete nach dem Kuvert. Der Mann verfolgte argwöhnisch ihre Bewegung, bemerkte ihre Resignation.
Sie sah, wie sich sein Blick leicht zu entspannen schien, ein hämisches Grinsen von ihm Besitz ergriff.
Ein aus Leibeskräften brüllender, der Kontrolle seiner Mutter völlig entglittener Junge prallte ihm genau in dem Moment in den Leib, als Lisa das Kuvert in ihrer Hosentasche ertastete. Der Mann wurde zur Seite gestoßen, die Waffe schlug unmittelbar vor ihren Füßen auf den Boden. Entgeistert starrte sie auf das helle, glänzende Metall. Das Schreien des Jungen setzte nur für den Bruchteil einer Sekunde aus. Der zornige Wildfang grapschte nach der Pistole, fiel der Länge nach über den
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