Schwaben-Zorn
Wohnung.«
Er schwieg einen Moment, überlegte, wie er der jungen Frau die schreckliche Nachricht einigermaßen schonend beibringen könne. Einigermaßen schonend. War das überhaupt möglich?
In Gedanken versunken schüttelte er seinen Kopf. Nein, das war nicht möglich. Der Tod kannte keine Rücksicht, keinen schonenden Umgang mit menschlichen Gefühlen. Er war der unerbittlichste, niemals wieder rückgängig zu machende Einschnitt in die menschliche Existenz.
»Wollen Sie mir nicht endlich sagen, was passiert ist?«
Braig sah die Angst im Gesicht seiner Gesprächspartnerin, spürte, dass er sie nicht länger hinhalten durfte. »Ihre Schwester hatte einen Unfall«, wiederholte er seine Worte vom Telefon, um nicht sofort mit der gesamten Tragweite des Geschehenen auf sie einzustürmen, »heute Nacht.«
»Was für einen Unfall?«
»Sie wurde überfallen.«
Rebekka Bangler erbleichte sichtbar. »Sie ist verletzt?«
Braig schwieg einen Moment, rang nach Worten. »Schlimmer«, sagte er.
»Christina?«
Er nickte.
»Aber doch nicht?« Ihr Gesichtsausdruck ließ erkennen, dass sie seine schlimme Botschaft ahnte.
»Sie ist tot«, sagte er, »so Leid es mir tut.«
Sie starrte ihn an, rang nach Luft, kippte dann, ohne ein weiteres Wort zu sagen, seitwärts vom Stuhl. Braig sprang auf, warf sich ihrem Körper entgegen, fing ihn auf, bevor sie sich verletzen konnte. Er streckte seine Arme aus, barg ihren Kopf in seinen Händen. Sie atmete röchelnd, bewegte lautlos ihre Lippen.
Braig schälte sich aus seiner Jacke, warf sie auf den Boden, ließ die junge Frau vorsichtig darauf nieder. Sie war leicht wie ein schlecht ernährtes Kind, wog kaum mehr als vierzig Kilogramm. Ihr bleiches Gesicht hatte den letzten Rest Farbe verloren, glich in seiner Leblosigkeit dem Aussehen verstorbener junger Menschen, wie er sie schon so oft in den letzten Jahren hatte ansehen müssen.
Er tätschelte ihre Wangen, versuchte, sie wieder zu Bewusstsein kommen zu lassen, spürte die wachsende Verzweiflung, die ihn selbst übermannte. Weshalb war er dazu verurteilt, ständig Hiobsbotschaften zu überbringen, die Menschen Schmerz und Leid in einem Ausmaß zufügten, das selbst von einer gesunden Psyche kaum zu bewältigen war?
Das Verhältnis Rebekka Banglers und ihrer Schwester musste eng gewesen sein, soviel wurde aus dem Zusammenbruch der Frau deutlich: Ihre Ohnmacht war nicht simuliert, ihre Reaktion auf seine schlimme Botschaft kein Spiel. Nein, die junge Frau hatte einen der wichtigsten Menschen ihres Lebens verloren, das war Braig klar, vielleicht sogar den wichtigsten.
Er sah, wie sie den Mund bewegte, irgendwelche unverständlichen Worte stammelte, dann mit heftigem Blinzeln die Augen aufschlug.
Sie schaute überrascht zu ihm auf. »Was, wer sind Sie?«
Er reichte ihr die Hand, half ihr, in die Höhe zu kommen.
Plötzlich wusste sie wieder Bescheid. »Christina«, fragte sie mit flüsternder Stimme, »ist sie wirklich …?«
Braig nickte.
»Warum?«
»Ich weiß es nicht.« Er wollte nicht genauer auf das Geschehene eingehen, war sich darüber klar, dass die junge Frau Ruhe benötigte, um den erlittenen Schock zu verarbeiten.
»Was ist passiert?«
»Später«, antwortete Braig, »ich werde es Ihnen später erzählen. Sie müssen erst wieder zu sich selbst finden.«
Sie betrachtete ihn mit großen Augen, hatte Schwierigkeiten, die Bedeutung seiner Worte zu verstehen. »Was soll ich tun?«, fragte sie.
»Ich schlage vor, Sie gehen nach Endersbach. Ihre Mitbewohnerin, Frau Schneitter, ist zu Hause. Sie ist krank. Ich werde sie verständigen, einverstanden?«
Braig wartete, bis er ihr zustimmendes Nicken sah, zog dann sein Handy aus der Tasche. Michaela Schneitter stimmte seinem Vorschlag sofort zu. Sie versprach, sich um Rebekka Bangler zu kümmern.
Fünfzehn Minuten später stand er mit ihr am Bahnhof, begleitete sie zu ihrer S-Bahn. Er hatte ihre Vorgesetzte verständigt, der Frau mitgeteilt, was geschehen war. Diese hatte dann keinerlei Einwände vorgebracht.
»Sie kommen allein zurecht?«
Die junge Frau nickte, stieg mit bleicher Miene in den Zug. Er sah durch die Scheiben, wie sie nach einem Platz suchte, sich dann auf der anderen Seite des Wagens niederließ. Sie schaute nicht mehr zurück, hielt den Kopf auf den Boden gesenkt.
Braig seufzte laut auf, als die S-Bahn aus dem Bahnhof schoss und in den über den Gleisen wabernden dichten Nebel eintauchte. Nein, es gab keine Gerechtigkeit in dieser Welt. Es traf
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