Schwaben-Zorn
einer kleinen Gruppe unternehmungslustiger Wanderfreunde auf den Höhen rund um Stuttgart; mit der Stadtbahn bis Gerlingen, dann zu Fuß an Schloss Solitude vorbei zum Bärensee und schließlich durch den Bürgerwald zur Hasenbergsteige und diese steil abwärts in den Stuttgarter Westen. Dann, dem langen Marsch direkt anschließend, die Einkehr in geselliger Runde in Sophie’s Brauhaus, um sich zu stärken und von der nasskalten Luft zu erholen. Und jetzt, zum Ausklang, das Treffen mit seiner Frau Waltraud auf dem kleinen Schlossplatz direkt über der gleichnamigen Stadtbahnhaltestelle.
Herbert Kapl hatte es sich seit dem Erreichen des Ruhestands vor wenigen Jahren angewöhnt, mindestens drei Tage in jeder Woche unterwegs zu sein, per Bahn oder zu Fuß, allein oder im Kreis von Freunden, um allzu schneller körperlicher und psychischer Vergreisung vorzubeugen und sich seinem angenehmsten Hobby hinzugeben. Er war ein leidenschaftlicher Eisenbahnfan. Seit seiner Jugend frönte er seiner Liebe zur Bahn mit unzähligen oft wochenlangen Reisen durch ganz Europa, Fototouren entlang von Schienen, Besuchen von Museen und Sonderfahrten mit Dampfzügen und allem, was sich auf Schienen bewegte. In den letzten Jahren waren Wanderungen in der freien Natur, oft im Kreis anderer unternehmungslustiger Rentner, hinzugekommen.
Seine Frau Waltraud hatte seit jeher ein großes Herz mit viel Verständnis für die Leidenschaft ihres Mannes. Waren sie in den ersten Ehejahren noch gemeinsam fast Wochenende für Wochenende auf Schienen unterwegs, so hatte sich das mit der Geburt der beiden Töchter immer seltener verwirklichen lassen. Erst jetzt, mit dem endgültigen Erreichen des Ruhestandes, hatte sich für Herbert Kapl die Möglichkeit ergeben, auch unter der Woche ohne die noch berufstätige Partnerin zu kleineren Touren zu starten.
»Du hasch scho einkauft?«, fragte er, als seine mit zwei großen Papiertaschen bewaffnete Frau auf dem kleinen Schlossplatz aus einer Gruppe eilig in Richtung Hauptbahnhof marschierender Passanten heraustrat und ihn begrüßte. Er sah ihr müdes Gesicht, merkte, dass sie einen anstrengenden Tag hinter sich hatte.
Waltraud Kapl nickte. »I weiß doch, wie ungern du in die Gschäfte gehsch.«
Er umarmte seine Frau, nahm ihr eine Tasche ab. »Du siehsch müde aus. Viel zu tun ghabt, ja?«
»Des kannsch sage. Die Arbeit im Labor wird immer umfangreicher. I weiß net, wie viele Probe mir noch zusätzlich untersuche sollet.« Sie arbeitete in der Lebensmittelüberwachung, fertigte Tag für Tag aktuelle Expertisen über die Belastung von Süßwaren aller Art an.
»No hasch keine Lust mehr, irgendwo eizukehre?«
Waltraud Kapl schüttelte den Kopf. »Wenn’s net unbedingt sein muss.«
Sie folgten der Fußgängerzone Richtung Hauptbahnhof, verließen den kleinen Schlossplatz, tauchten in die untere Königstraße ein.
»Was hasch eikauft?«, fragte Herbert Kapl.
»A Bluse für d’ Estrid und a Hose für dich.«
»Für mich?« Vor Überraschung blieb er kurz stehen, wandte den Blick zu seiner Frau. Hinter ihm schimpfte ein Mann.
Sie nickte. »Mir probieret se daheim. I hoff, sie passt!«
Sie liefen weiter, ordneten sich wieder in den breiten Strom der Passanten ein. Die Straßenlampen schafften es kaum, die Nebelschwaden aufzureißen und die Dunkelheit mit schmalen Lichtkegeln zu durchdringen. Zu ihrer Linken erhob sich die hell erleuchtete Fassade des unteren Kaufhof, vor ihnen tauchten die Umrisse des von unzähligen Scheinwerfern angestrahlten Bahnhofsturms aus dem Dämmer der aufziehenden Nacht.
»Und du?«, fragte Waltraud Kapl. »Wie war’s bei dir?« Sie freute sich über die Aktivitäten ihres Mannes, unterstützte, so gut sie konnte, seine Exkursionen und Fahrten.
»Schön war’s«, antwortete er, »Solitude, Bärenschlössle, Pfaffensee, Bürgerwald und dann über die Hasenbergsteige …« Er blickte nach oben, sah für einen Moment den hell erleuchteten Mercedes-Stern auf dem Bahnhofsturm aus dem Dunst hervortreten, bemerkte dann unterhalb, an der linken Seite der Plattform, den Körper eines Menschen, sah, wie sich die Person vom Zaun der Plattform löste und plötzlich, wie ein großer Stein, nach unten stürzte …«Da fliegt einer!«, rief Herbert Kapl. Er blieb stehen, starrte nach oben, konnte nichts mehr erkennen. Der Bahnhofsturm war hinter Nebelschwaden verschwunden.
»Was meinsch?«, fragte seine Frau. Sie bremste ihren Schritt, drehte sich um.
Herbert Kapl gestikulierte mit
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