Schwaben-Zorn
seiner freien Hand, zeigte aufgeregt in den Himmel. »Vom Turm«, rief er laut, »da isch einer runtergfloge!«
»Vom Turm?«
Ein Mann rammte ihm seinen Ellenbogen in die Seite, entschuldigte sich, eilte weiter.
»Wenn i’s dir sag! I hans gsehe, mit meine Auge!«
Waltraud Kapl starrte angestrengt in den dunklen Himmel, sah nichts als undurchdringlichen Nebel. Passanten blieben unmittelbar vor ihr stehen, schoben sich maulend an ihr vorbei. »I seh nix«, sagte sie, »überhaupt nix!«
Die Stimme ihres Mannes schien sich zu überschlagen. »Ja, jetzt natürlich nemme! Jetzt isch alles voller Nebel. Aber vorhin … I sag dir, do isch einer runtergstürzt!«
»Vom Turm?«
»I hans gsehe!«
»Aber do isch doch a hohes Gitter auße rum! Mir wäret doch oft genug obe. Da isch doch alles befestigt. Da kann doch gar niemand runterfalle, des weisch doch selber!«
Herbert Kapl senkte seinen Blick, betrachtete kopfschüttelnd seine Frau. »Du glaubsch mir net, wie?« Schon einmal, vor wenigen Jahren, hatte er sie nach einer Wanderung in der Nähe von Schwäbisch Hall mit einer ähnlichen Neuigkeit überrascht. Er war auf die Leiche eines ermordeten jungen Mannes gestoßen. Im ersten Moment hatte sie ihn nur ungläubig angesehen und den Kopf geschüttelt, genau wie jetzt. Am nächsten Tag hatte er ihr dann stolz die Zeitungsartikel mit dem genauen Bericht präsentiert. »I bin mir fascht so sicher wie damals«, sagte er.
11. Kapitel
Robert Bangler hatte urplötzlich angefangen, am ganzen Körper zu zittern, hatte noch ein paar gurgelnde, undefinierbare Geräusche von sich gegeben und war dann zusammengebrochen wie ein von einem Herzinfarkt gefällter Mensch. Braig und Dr. Sarrazin brauchten ihre ganze Kraft, den zur Korpulenz neigenden Mann aufzurichten und zu der Pritsche am Rand des Raumes zu schleppen. Der Pathologe fühlte seinen Puls, zeigte sich nicht sonderlich beunruhigt.
»Kleiner Schock, nicht weiter schlimm. Der kommt bald wieder zu sich.«
Braig, der sich selbst unwohl fühlte, verzichtete darauf, die nüchternen Worte des Mediziners zu kommentieren. So oft er die kalten, nach Äther und ähnlich scharfen Chemikalien riechenden Räume der Pathologie auch schon betreten hatte, war er doch jedes Mal von einem Gefühl erfasst worden, das seine Sinne lähmte und seinen Verstand auszuschalten drohte. Die Begegnung mit einem oder gar mehreren der toten Körper, die hier in schmalen Kojen untergebracht waren und nur noch auf eine letzte Untersuchung durch den Pathologen beziehungsweise auf ihre Bestattung warteten, verschaffte ihm auch nach mehr als zehn Jahren Berufspraxis noch Beklemmungen, die sich oft erst Stunden nach dem Verlassen des bedrohlich wirkenden Ortes wieder legten. Dabei hatte er nur selten eines der hier aufgebahrten Geschöpfe lebend gekannt. Wie viel mehr musste der Aufenthalt einem Menschen zu schaffen machen, dem sein Partner oder sein Kind präsentiert wurde.
Robert Bangler benötigte einige Minuten, sich zu beruhigen.
»Sie ist es, ja?«, fragte Braig mit einer Kopfbewegung in Richtung der Leiche der ermordeten jungen Frau. Die Gewalt, mit der der Mörder über sie hergefallen war, war ihr unübersehbar ins verunstaltete Gesicht geschrieben.
Der Mann nickte fast unmerklich, war offenkundig froh, den Raum verlassen zu können. Braig verabschiedete sich von ihm, inhalierte die Luft draußen unbeschadet ihrer feuchtkalten Konsistenz in vollen Zügen.
Er hatte Banglers Angaben telefonisch überprüft und sowohl von einer Familie Vogelmann als auch von einem Gerhard Stöckle erfahren, dass sie die Wohnung in Winnenden gegen Viertel nach zehn verlassen hatten. Dieser Stöckle war sich sicher, etwa zehn Minuten später die Banglers vor ihrer Haustür in Schwaikheim abgesetzt zu haben.
Die Informationen persönlich nachzukontrollieren, schien Braig unnötige Mühe, brachten sie dem Mann ohnehin kein Alibi für den Mord. Christina Bangler war gegen elf Uhr in der Nacht in Waiblingen getötet worden – Zeit genug für ihn, von Schwaikheim an den Tatort zu gelangen. Bevor sich Braig jedoch weiter auf Bangler konzentrierte, musste er die übrigen Spuren des Falles verfolgen.
Er hörte die Erkennungsmelodie seines Handy, zog es aus der Tasche.
Theresa war in der Leitung. »Ann-Katrin ist aufgewacht. Vor einer halben Stunde etwa. Sie ist voll da, nur sehr müde. Sie schläft sicher bald wieder ein.«
»Du bist noch bei ihr?«, fragte Braig nervös.
»Ich stehe am Fenster im Gang, frische
Weitere Kostenlose Bücher