Schwaben-Zorn
sie bewegten sich durch die nachtschlafenden Straßen, kamen dann irgendwo weit entfernt zur Ruhe. Wahrscheinlich ein Autounfall, überlegte er, irgendein Verrückter, der selbst nachts nicht schnell genug vorwärts zu kommen glaubte.
Wieder einzuschlafen fiel ihm nicht leicht. Die Unterhaltung mit Theresa kam ihm in den Sinn, ihre Worte, mit denen sie seinen Bericht über die Begegnung mit Erika und Robert Bangler kommentiert hatte.
»Du siehst selbst aus, als könntest du Hilfe brauchen. Ihr habt viel zu tun?«
Sie hatten die ruhig atmende Ann-Katrin verlassen, waren den Gängen des Krankenhauses zum Ausgang gefolgt.
»Eine junge Frau wurde ermordet. Äußerst brutal. Der Anblick geht mir nicht aus dem Sinn.«
Theresa Räuber hatte genickt, ihm dann zärtlich die Hand auf den Rücken gelegt. »Ich weiß nicht, wie du es erträgst. Ich könnte es nicht«, hatte sie dann hinzugefügt.
»Irgendjemand muss es tun. Den Müll beseitigen, den andere wegwerfen.«
Sie waren im Eingangsbereich angelangt, blieben an der Tür stehen.
»Ihr habt eine Spur?«
»Ich weiß es nicht. Noch fehlen mir genauere Informationen. Aber das Verhalten der Angehörigen … Manchmal empfinde ich nur noch Ekel. Ekel vor der ganzen Welt.«
Er hatte ihr von der Reaktion der Eltern berichtet, die Worte der Frau und des Mannes erwähnt. So sehr ihm bewusst war, dass seine dienstlichen Ermittlungen einem absoluten Schweigegebot unterlagen, so dringend fühlte er die Notwendigkeit, sich mit einer vertrauenswürdigen Person darüber auszutauschen. Theresa Räuber war dieser Mensch – so gut hatte er sie inzwischen kennen gelernt.
»Fundamentalisten«, hatte sie seinen Bericht kommentiert, »schwäbische noch dazu.«
»Du kannst verstehen, wie ich mich fühle?«
»Ohne jeden Zweifel. Schwäbische Fundamentalisten, das ist der Höhepunkt der Verblendung. Warum flüchten die hellsten Köpfe seit Jahrhunderten aus unserer Region, suchen Exil in Hamburg, Köln, Berlin?« Sie hatte den Kopf geschüttelt, war zur Tür getreten, hatte sich zu ihm umgedreht. »Papier ist ihnen wichtiger als lebendige Menschen. Belanglose, vor Jahrtausenden unter völlig anderen Umständen notierte Worte elementarer als Verwandte, Freunde, Bekannte. Ein Berg von Arbeit für Psychologen und Psychiater. Du tust mir Leid.«
»Ich weiß nicht, was ich von dem Mann halten soll. Ob er seine eigene Adoptivtochter getötet hat?«
Theresa Räuber zögerte keinen Augenblick mit ihrer Antwort. »Wir müssen vorsichtig sein mit schnellen Urteilen. Aber so, wie du ihn beschreibst, sehe ich deine Spekulation schon im Bereich des Möglichen. Fundamentalisten, gleich ob religiöser oder politischer Natur, können sich in einen Fanatismus steigern, der Menschen und Leben in ihren Augen nur noch sekundären Wert zubilligt. Wichtig ist allein ihr Glaube, ihr Wahn. Und der geht, das lehrt uns die Geschichte von den Kreuzzügen bis zu amerikanischen Präsidenten, im Notfall über Berge von Leichen. Wenn du mich fragst, bei aller Vorsicht, ich traue es diesem Bangler zu.«
Er hatte sie zum Bahnhof gebracht, sie bis an ihren Zug begleitet. Sie musste zurück nach Tübingen, weil am nächsten Morgen zwei wichtige Seminare auf sie warteten. Braig hatte sich von ihr verabschiedet, noch lange über ihre Worte nachgedacht. Musste er Robert Bangler wirklich als potentiellen Täter ins Auge fassen?
Braig hatte lange gebraucht, ehe er wieder einschlief. Albtraumhafte Bilder hatten ihn über Stunden hinweg begleitet. Schweißgebadet war er am frühen Morgen aufgewacht, Minuten später beim Läuten des Weckers in die Höhe geschossen.
Christina Banglers entstelltes Gesicht begleitete ihn in den Tag.
* * *
Braig nahm ein karges Frühstück zu sich, fuhr dann ins Amt. Gegen halb acht betrat er sein Büro. Er räumte seinen Schreibtisch auf, stieß auf die Telefonnummer Corinna Fischers, der ehemaligen Mitschülerin der Ermordeten, die er gestern von Rebekka Bangler erhalten hatte. Er musste sie fragen, was sie am Montagabend mit Christina in Stuttgart unternommen und wann sie sich wieder getrennt hatten.
Braig setzte sich auf seinen Bürostuhl, wählte die entsprechende Nummer. Nach dem dritten Läuten meldete sich eine verschlafene weibliche Stimme. »Fischer.«
Er stellte sich kurz vor, entschuldigte sich für den frühen Anruf, erbat sich genauere Informationen über die Identität seiner Gesprächspartnerin. »Sie sind die ehemalige Klassenkameradin von Christina Bangler?«
»Ja, das
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