Schwaben-Zorn
Luft schnappen.«
Braig schaute auf seine Uhr, sah, dass es kurz nach sechs war.
»Ich komme sofort«, entschied er spontan, »wartest du solange?«
* * *
Sie saß in der kleinen Halle gleich beim Empfang, drückte Braig die Hand. Ihre Wangen sahen eingefallen aus, die Augen wirkten müde. Auf dem Sitz neben ihr lag ein dickes Buch.
»Sie ist wieder eingeschlafen«, erklärte sie, »liebe Grüße extra für dich.«
»Danke. Wie fühlt sie sich?«
»Sehr müde. Sie konnte kaum sprechen.«
»Du hast einen Arzt getroffen?«
»Die betreuende Ärztin. Wir sollen uns keine übergroßen Sorgen machen. Schlaf sei das Beste, was ihr passieren könne. In ein paar Tagen werde sie wieder fit sein.«
»Du glaubst der Frau?«, fragte Braig.
Theresa Räuber nickte mit dem Kopf. »Wir müssen ihr Zeit lassen. Die Operation hat viel Kraft gekostet.«
Braig betrachtete ihr bleiches Gesicht, schaute auf das dicke Buch. »Du lernst?«
»Es geht nicht mehr. Leider. Der Tag war zu anstrengend.«
»Du verlangst zuviel von dir. Du musst dich auch schonen.«
Sie hatte ihre viel versprechende Karriere bei einem großen Konzern freiwillig aufgegeben und ein Theologie-Studium begonnen. Nach drei anstrengenden Sprach-Semestern war sie letztes Jahr nach Tübingen gezogen, um sich ganz dem Universitätsstudium zu widmen.
»Ich finde mein neues Leben nach wie vor interessant«, erwiderte sie, »und bin froh, dass ich mich so entschieden habe.«
»Das freut mich für dich.«
»Jahrelang war ich damit beschäftigt, den Diktatoren und Mafia-Bossen dieser Welt Luxuskarossen zu verkaufen. Heute versuche ich, verschiedene Weltanschauungen und Philosophien kennen zu lernen und mich in sie zu vertiefen. Das scheint mir weitaus sinnvoller und befriedigender, auch wenn es manchmal sehr anstrengend ist.« Sie erhob sich, griff nach dem Buch auf dem Nachbarsitz, nahm es mit. Existiert Gott konnte Braig auf dem Einband entziffern.
Sie stiegen zwei Treppen hoch, bogen um die Ecke, läuteten an der Tür zur Intensivstation. Braig grüßte, als eine ältere Schwester öffnete. Sie kannte ihn noch vom Vortag, nickte ihm zu, ließ beide passieren. Ann-Katrin lag friedlich atmend in ihrem Bett, angeschlossen an einen ganzen Pulk von Schläuchen und Leitungen. Auf einem Monitor blinkten kleine Lichtsignale.
»Sie schläft wieder«, sagte die Schwester mit einer tiefen, rauchigen Stimme.
Braig streichelte Ann-Katrins Handrücken, hörte das Fiepen und Pulsieren verschiedener Geräte und Pumpen. Er fühlte sich unbehaglich, der undurchschaubaren Technik, die Ann-Katrin umsorgte, ohnmächtig ausgeliefert. »Das hat sie nicht verdient«, sagte er. »Es gibt keine Gerechtigkeit auf dieser Welt.«
Theresa schüttelte den Kopf. »Nein, die gibt es nicht.«
Braig schaute überrascht zu ihr hinüber. »Du stimmst mir zu?«
Sie stand auf der anderen Seite des Krankenbetts, fuhr sich langsam durch die Haare. »Weshalb sollte ich anderer Meinung sein? Schau sie dir doch an.«
»Dein Studium. Lernst du keine anderen Antworten?« Er beobachtete, wie sie ihrer Schwester zärtlich über die Stirn strich, hörte, wie Ann-Katrin im Schlaf tief um Atem rang.
»Dass dieser Welt jeder Ansatz von Gerechtigkeit fehlt, ist eine der Grunderfahrungen unseres Lebens. Weshalb soll ich meine Augen vor dieser Tatsache verschließen?«
Braig warf einen Blick auf die anderen Betten des Raumes, sah bleiche, scheinbar leblose Körper darin liegen. Unzählige Schläuche und Leitungen, Computer-Bildschirme, dazu die unablässigen, typischen Geräusche der Apparaturen. Er fühlte die Gänsehaut, die sich auf seinem Rücken ausbreitete.
»Wo bleibt Gott?«, fragte er. »Warum hilft er nicht?«
Ann-Katrin tat im Schlaf einen tiefen Seufzer.
»ER ist ohnmächtig, wie du siehst und braucht unsere Hilfe. Wozu sonst sind wir da?«, antwortete Theresa Räuber.
Braig schaute sie aus müden Augen an.
12. Kapitel
Die Nacht war fast so schlimm wie der Tag. Braig schlief schlecht und mit mehreren Unterbrechungen, erwachte immer wieder mit dem Anblick der an unzählige Schläuche und Leitungen angeschlossenen, bleichen Gestalt Ann-Katrins. Er hörte das Fiepen und Pulsieren der Geräte, so laut und so intensiv als stünde er unmittelbar vor ihrem Bett, fiel dann Minuten später wieder in einen unruhigen Schlaf.
Mitten in der Nacht tat es einen gewaltigen Schlag. Er schrak auf, lief zum Fenster, erblickte aber nichts als nur dicke Nebelschwaden. Kurze Zeit später hörte er Sirenen;
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