Schwanengesang (German Edition)
Gestrüpp in seinem Gesicht ragte eine große Nase hervor, die mit blauen Adern durchzogen war, sein Teint tendierte ins Knallrote. Wenn Marc nicht gewusst hätte, dass er noch keine vierzig war, hätte er ihn auf Ende sechzig geschätzt.
Als Scarpetta den Mund öffnete, schlug Marc eine heftige Alkoholfahne entgegen. »Was ist los?«, fragte der Mann unwirsch.
Marc hatte im Internet erfahren, dass Scarpettas Eltern Anfang der Sechzigerjahre als Gastarbeiter aus Sizilien nach Deutschland gekommen waren. Ihrem Sohn Graciano war allerdings nicht einmal mehr der Hauch eines italienischen Akzents anzuhören.
»Mein Name ist Hagen«, stellte Marc sich vor. »Ich würde mich gerne kurz mit Ihnen unterhalten.«
»Sind Sie Reporter?«
»Nein, ich bin Rechtsanwalt.«
»Rechtsanwalt!« Scarpetta spie das Wort geradezu aus. »Dann will ich Ihnen jetzt mal was sagen, Herr Rechtsanwalt . Ihre Kollegen haben mich schon ausgequetscht wie eine Zitrone. Bei mir ist nichts mehr zu holen.«
»Ich bin weder gekommen, um Sie zu verklagen, noch suche ich neue Mandanten. Ich …« Marc zögerte kurz, beschloss dann aber, gleich zur Sache zu kommen. »Ich würde mich mit Ihnen gern über Ihre Tochter Jennifer unterhalten.«
»Jennifer.« Scarpetta sprach den Namen so verwundert aus, als habe er ihn fast schon vergessen.
»Ja, Jennifer. Es wäre nett, wenn Sie mir ein paar Minuten Ihrer Zeit opfern könnten. Danach lasse ich Sie auch in Ruhe.«
Scarpetta schloss kurz die Augen, dann hatte er sich zu einer Entscheidung durchgerungen. »Also gut, kommen Sie rein.« Er führte Marc durch einen verwahrlosten Flur in ein chaotisches Wohnzimmer, wo er ihn auf einem Sofa Platz nehmen ließ. Der Couchtisch war übersät mit Gläsern, leeren Schnaps- und Bierflaschen, Pillenröhrchen und Medikamentenpackungen, in drei Aschenbechern stapelten sich Zigarettenkippen zu Mittelgebirgen. Es stank nach einer Mischung aus Kneipe, Autobahntoilette und Umkleidekabine.
Scarpetta setzte sich ebenfalls, steckte sich sofort eine Zigarette an und inhalierte tief. Marc sah, dass seine Hände die ganze Zeit unkontrolliert zitterten wie bei einem Parkinson-Kranken.
»Also?«, fragte Scarpetta, während er den Rauch durch die Nasenlöcher entweichen ließ.
Marcs Blick fiel auf ein großes Schwarz-Weiß-Foto, das in einem silbernen Rahmen auf der Anrichte stand. Auf dem Foto war ein etwa zehnjähriges Mädchen zu sehen, das fröhlich in die Kamera lachte.
»Darf ich?«, fragte Marc. Er wartete ein kurzes Kopfnicken von Scarpetta ab, dann lehnte er sich zur Seite und nahm das Foto zur Hand.
»Ist das Jennifer?«, fragte er behutsam.
Scarpetta nickte stumm und seine Augen füllten sich mit Tränen. »Das ist die letzte Aufnahme, auf der sie glücklich war«, sagte er. »Kurz vor der Krebsdiagnose.«
»Sie ist sehr hübsch«, sagte Marc.
»Sie war sehr hübsch«, korrigierte Scarpetta sofort. »Jetzt liegt sie in ihrem Grab, fault langsam vor sich hin und ihr hübsches Gesicht wird von Maden zerfressen. Hören Sie, was wollen Sie von mir? Die ganze Sache ist zwei Jahre her und über meine Tochter ist alles gesagt und geschrieben worden.«
»Es hat in letzter Zeit vielleicht eine neue Entwicklung gegeben«, deutete Marc an.
»Eine neue Entwicklung!«, schnaubte Scarpetta höhnisch. »Es kann keine neue Entwicklung mehr geben. Meine Tochter ist tot und daran wird sich auch nichts mehr ändern.«
»Es tut mir sehr leid, was mit Ihrer Tochter geschehen ist«, versicherte Marc schnell. »Und es stimmt, ihr kann niemand mehr helfen. Aber vielleicht kann ihre Geschichte dazu dienen, andere vor einem ähnlichen Schicksal zu bewahren.«
Scarpetta schüttelte unwillig den Kopf. »Labern Sie mich nicht voll. So einen Scheiß musste ich mir schon vor zwei Jahren von den Journalisten und Ihren Kollegen anhören. Und was ist dabei rausgekommen?« Er ließ seine Frage unbeantwortet. »Also, was gibt es für eine neue Entwicklung?«
Aha, dachte Marc, offenbar ist sein Interesse nun doch geweckt. »Dr. Heinen ist seit mehreren Tagen spurlos verschwunden.«
Scarpettas Miene blieb unbeweglich. Seine einzige Reaktion bestand darin, dass er einen tiefen Zug von seiner Zigarette nahm. Dann zündete er sich mit der alten Zigarette eine neue an, bevor er etwas sagte. »Warum erzählen Sie mir das?«
»Nun, soweit ich weiß, hat Herr Dr. Heinen Ihre Tochter behandelt und Sie geben ihm die Schuld an Jennifers Tod.«
»Soweit Sie wissen?«, ätzte Scarpetta. »Das wissen
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